Querschläger
seinem eigentlichen Opfer beginnen. Sonst würde er riskieren, dass ihm die betreffende Person im allgemeinen Chaos durch die Lappen geht.
Verhoeven fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare, die noch feucht waren vom Duschen. Das Wichtigste zuerst, auf diese einfache Formel hatte der erfahrene Bredeney Winnie Hellers These gebracht. Aber was war das Wichtigste? Um welches der drei verbliebenen Opfer ging es? Um Angela Lukosch, die Abiturientin? Um Beate Soltau, die Sekretärin? Oder doch um den umschwärmten Lukas Wertheim? Wenn sich unser Hintermann tatsächlich von Beginn an in Hrubeschs Windschatten bewegt hat, überlegte Verhoeven, wäre Lukas Wertheim der Erste gewesen. Sollen wir den wirklich ernsthaft in Erwägung ziehen?, maulte Winnie Heller in seinem Kopf. Ich meine, wir haben ein ganzes Klassenzimmer voller Schüler, die behaupten, dass ein schwarz gekleideter Kerl in der Tür erschienen sei und ohne lange zu fackeln das Feuer eröffnet habe. Also doch Angela Lukosch, dachte Verhoeven. Eine hübsche junge Schülerin, die den Vater ihres ungeborenen Kindes mit einer Lüge provoziert hatte und der laut Aussage ihrer besten Freundin in der Zeit vor ihrem gewaltsamen Tod ziemlich übel mitgespielt worden war. Er dachte an die zerstochenen Reifen und die anonymen Beschimpfungen, die Angela Lukosch angeblich erhalten hatte. Und daran, dass Miranda Kerr ihrer Todfeindin ausgerechnet am Tag des Massakers auf die Toilette gefolgt war. Die zeitliche Abfolge, hämmerte es hinter seiner Stirn. Das ist der alles entscheidende Punkt …
»Sind Se noch dran?«, wollte unterdessen Dr. Gutzkow wissen.
»Ja, entschuldigen Sie«, sagte Verhoeven. »Ich habe nur gerade überlegt, in welcher Reihenfolge unsere Opfer gestorben sein könnten.«
»Ich fürchte, vom gerichtsmedizinischen Standpunkt kann ich Ihnen dazu nicht viel Erhellendes an die Hand geben«, entgegnete Dr. Gutzkow in bedauerndem Hochdeutsch. »So eng, wie der zeitliche Rahmen in diesem Fall gesteckt ist …«
»Natürlich«, sagte Verhoeven.
»Wer starb wann?«, wiederholte Dr. Gutzkow sinnend. »Det klingt beinahe wie so ’n makabret Quiz, wat?«
»Oh ja«, seufzte Verhoeven. »Allerdings.«
Er bedankte sich und wünschte eine gute Nacht. Dann nahm er sich die Akten vor, die er sich aus dem Büro mitgebracht hatte. Er war sich durchaus bewusst, dass er gegen einen seiner wichtigsten Grundsätze verstieß, wenn er es zuließ, dass die Arbeit ihn bis in seine eigenen vier Wände verfolgte, aber in diesem speziellen Fall ging es nicht anders. Sie mussten dieser Sache irgendwie Herr werden, bevor der Kerl, hinter dem sie her waren, endgültig wieder in der Versenkung verschwand.
Schon jetzt war er nichts als ein Schatten.
Einer, der im wahrsten Sinne des Wortes aus der Deckung feuerte.
Kein Schild an der Tür zum Sekretariat, resümierte Verhoeven, indem er sich das kurze Gespräch mit Jana Weinand in Erinnerung rief, das Winnie Heller und er auf der Intensivstation der Mainzer Universitätsklinik geführt hatten. Was das betraf, war sich die Softwarevertreterin ganz sicher gewesen. Neben der Tür des Direktors, ja, da sei so ein Hinweis gewesen. S. Malbusch. Direktor. Anmeldung gegenüber. Oder so ähnlich. Aber an Beate Soltaus Tür? Nein, da nicht …
»Kein Schild«, murmelte Verhoeven vor sich hin, indem er die verschwommene Kopie von Beate Soltaus Porträtfoto zur Hand nahm, die bei seinen Akten lag. Keine Entschuldigung dafür, dass die zuverlässige Schulsekretärin noch einmal in die Bibliothek hinaufgegangen war, als sie eigentlich schon längst wieder in ihrem Büro hatte sitzen sollen.
Aber wie war das zu erklären? Ein Notfall? Ein Versehen?
Eine zufällige Nachlässigkeit?
Verhoeven legte das Foto beiseite und schlenderte langsam zum Fenster hinüber. An diesem unseligen Dienstagvormittag sind erstaunlich viele Dinge nicht so gewesen, wie sie hätten sein sollen, dachte er. Ein Schild, das nicht an einer Tür gehangen hatte. Eine Lehrerin, die nicht dort gewesen war, wo der Junge, der entschlossen war, sie zu töten, sie vermutet hatte. Dazu ein Chopin spielender Hasenfuß, der sich im Angesicht einer Waffe zu einer gänzlich unerwarteten Heldentat hinreißen ließ. Und ein hochintelligentes junges Mädchen, das ausgerechnet am Tag der tödlichen Schüsse zum ersten Mal auf den Gedanken kommt, dass die Leitwölfin seiner beschränkten kleinen Welt ein schmutziges Geheimnis haben könnte.
Was war das? Zufall? Schicksal? Die viel
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