Querschläger
Geringschätzigkeit und Ablehnung nur so triefte, und er fand einfach nicht heraus, womit er sie derart gegen sich aufbrachte. Ob es überhaupt etwas mit ihm persönlich zu tun hatte oder vielleicht doch an ihr lag. Irgendwie erinnerte sie ihn an ein wildes Tier, das nur zögerlich Kontakt aufnahm. Manchmal näherte sie sich ein paar Schritte, um im nächsten Augenblick erschreckt zurückzuspringen und die Krallen auszufahren. Er sah wieder das Ölgemälde seiner Schwiegereltern an und fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis er wusste, ob ihre Partnerschaft gelang. Bis er aufhören konnte, darauf zu achten, was er sagte und tat. Ob er jemals damit aufhören konnte …
»Hendrik?«
Er sah überrascht auf. »Ja?«
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Sie war hervorragend vorbereitet«, sagte er. »Außerdem ist sie eine erstaunlich gute Schauspielerin.«
Seine Frau nickte, als ob sie genau das schon immer gesagt habe, und schob dann den Schnittchenteller ein Stück näher an ihn heran. »Und wie hat sie die Sache mit ihrer Schwester inzwischen verarbeitet? Ist sie endlich darüber hinweg?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Verhoeven unumwunden zu. »Wir sprechen nicht viel Privates.«
Silvie schüttelte mitfühlend den Kopf. »Das arme Ding sah einfach furchtbar aus, als wir uns das letzte Mal begegnet sind.«
Verhoevens Blicke wanderten über ihr makelloses Gesicht mit den großen, tiefdunkelblauen Augen, und er fragte sich plötzlich, wie so viel Schönheit auf eine Frau wie seine Kollegin wirken musste. Winnie Heller war keine besonders anziehende Frau mit ihren knapp eins vierundsechzig Körpergröße, dem hellbraunen Haar, das an den Spitzen Reste einer verunglückten kupferroten Tönung aufwies, und den etwas zu kleinen, kugelrunden Augen, doch insgeheim führte Verhoeven die mangelnde Attraktivität seiner Partnerin eher darauf zurück, dass sie sich nicht genug Mühe mit ihrem Aussehen gab. Mehr noch: Manchmal beschlich ihn sogar das Gefühl, dass Winnie Heller sich – bewusst oder unbewusst – für irgendetwas bestrafte und dass die Buße, die sie sich auferlegt hatte, in einer Art gepflegter Selbstvernachlässigung bestand. »In letzter Zeit scheint es ihr ein bisschen besser zu gehen«, sagte er, als er merkte, dass seine Frau auf einen Kommentar von ihm wartete.
»Woran machst du das fest?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete er, und seine Stimme klang gereizter als beabsichtigt. »Es ist eigentlich nur so ein Eindruck.«
Silvie runzelte die Stirn, als überlege sie, ob sie das Thema trotz seiner offenkundigen Einsilbigkeit weiterverfolgen, ob sie ihn festnageln, seine diesbezüglichen Gefühle weiter ausloten sollte. Was das betraf, konnte sie ausgesprochen hartnäckig sein, aber sie schien auch zu spüren, dass der Zeitpunkt für ein Gespräch dieser Art nicht besonders günstig war, und gab sich widerwillig zufrieden. »Nina hat übrigens …«, setzte sie zu einem erneuten Themenwechsel an, als das Telefon abermals zu läuten begann. »Oh nein«, stöhnte sie mit einem entnervten Blick auf das Display. »Bitte nicht schon wieder!«
Verhoevens Blick suchte die Uhr an der Wand. »Es ist beinahe Mitternacht. Also lass es einfach klingeln, okay?«
»Ich mach’s ganz kurz«, entgegnete seine Frau mit einem entwaffnenden Augenaufschlag und griff wieder nach dem Hörer. »Versprochen.«
Resigniert griff sich Verhoeven ein Schnittchen mit Schinken und Käse und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo Nina, seine fünfjährige Tochter, bereits seit ein paar Stunden in einem sanften und offenbar auch reichlich erschöpften Schlummer lag. Ihre dichten braunen Locken waren zerdrückt und standen in alle Richtungen von ihrem Kopf ab, während selbst noch in dem spärlichen Licht, das von der Tür hereinfiel, die gesunde Farbe ihrer Wangen zu erkennen war, die davon herrührte, dass ihr fünfjähriger Forschergeist sie bei jedem erdenklichen Wetter an die frische Luft trieb, wo sie Vögel beobachtete, Höhlen baute, Schmetterlinge zeichnete, Blätter sammelte und – wie er von einer der Kindergärtnerinnen erfahren hatte – auch mit großer Freude jede Menge Dreck machte.
Verhoeven schlang den Rest seines Schnittchens hinunter, setzte sich auf die Bettkante und beobachtete ihren Schlaf.
In den vergangenen Tagen hatte er seine Tochter eigentlich nur beim Frühstück für ein paar flüchtige Minuten gesehen, und er verspürte mit einem Mal ein
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