Querschläger
verfügen!
Winnie Heller schnaubte verächtlich und kniff dann die Augen zusammen, um in der Dunkelheit zwischen den parkenden Autos wenigstens eine Ahnung von Asphalt erkennen zu können. Die Tage waren noch immer recht mild, und selbst zu dieser späten Stunde war die Luft angenehm lau. Allerdings roch sie schon ein wenig nach faulendem Laub und Pilzsporen, obwohl der Herbst kalendarisch erst in einer knappen Woche begann. Aber was richtete sich heutzutage noch nach dem Kalender? Haselpollen im Dezember, Forsythien im Februar, da war es schwer, überhaupt so etwas wie Jahreszeiten auszumachen.
Sie atmete tief durch und wischte sich flüchtig über die Wangen, als etwas, das sich wie der Faden eines Spinnennetzes anfühlte, ihr Gesicht streifte. Marienseide, hatte ihre Mutter diese typische Altweibersommererscheinung immer genannt und steif und fest behauptet, dass die Berührung eines solchen Fadens Glück verheiße und Augenleiden heilen könne. Winnie Heller kickte einen tischtennisballgroßen Stein beiseite, eine Aktion, die sie angesichts ihrer hohen Absätze beinahe aus dem Gleichgewicht brachte, und überlegte, wie es ihren Eltern gehen mochte. Seit jenem verhängnisvollen Autounfall vor mehr als acht Jahren, bei dem ihre Schwester derart schwere Gehirnverletzungen davongetragen hatte, dass sie zunächst ins Wachkoma gefallen und schließlich, nach sieben langen Jahren in der Matratzengruft, gestorben war, hatten sie einander nur sporadisch gesehen. Winnie Heller hatte nie verstanden, warum ihre Eltern nicht mehr Zeit am Krankenbett ihrer Schwester verbracht hatten. Warum sie taten, als habe es jenen folgenschweren Freitagabend im Mai, an dem Winnie Heller ihr bestandenes Abitur gefeiert und ihr Vater sich betrunken hinter das Steuer seines Mercedes gesetzt hatte, nie gegeben. Wie sie es fertigbrachten, ihr gewohntes Leben weiterzuleben, anstatt wie sie selbst jede freie Minute an Ellis Bett zu verbringen. Stunde um Stunde hatte sie dort gesessen und mit ihrer Schwester gesprochen. Sie hatte ihr Musik vorgespielt, von der Arbeit erzählt, sie hatte versucht, Elli auf dem Laufenden zu halten, um ihr am Ende vielleicht doch irgendeinen Anreiz zu bieten, aus dem Dämmerzustand, in den der Unfall sie von jetzt auf gleich katapultiert hatte, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Doch Elli war nicht zurückgekehrt, und die Nachricht von ihrem Tod hatte Gisela und Franz Heller im vergangenen November schließlich ein letztes Mal an die Existenz ihrer jüngeren Tochter erinnert. Und an die Schuld, die sie auf sich geladen hatten.
Winnie Hellers Finger krampften sich fester um das Portemonnaie in ihrer Hand. Am Tag nach Ellis Begräbnis hatte sie endgültig jeden Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Sie hatte ihre E-Mail-Adresse geändert, sich ein anderes Handy und sogar eine neue Festnetznummer besorgt und die drei Briefe, die ihre Mutter ihr in der Zwischenzeit geschickt hatte, ungeöffnet in den Müll geworfen. Doch zu ihrem Unglück konnte sie nicht verhindern, hin und wieder an ihre Eltern zu denken. Oft waren es Kleinigkeiten, die die schmerzlichen Erinnerungen zurückbrachten. Der Duft von frisch gebackenem Zitronenkuchen. Die Melodie irgendeines stumpfsinnigen Schlagers, die zufällig aus einem fremden Radio schepperte. Ein ganz bestimmtes Licht, das an sommerliche Grillabende gemahnte, an Gelächter und Pappteller und das sanfte Rauschen der Bäume hoch über ihren Köpfen. Es waren Banalitäten wie diese, die dafür sorgten, dass man die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit, an den Zauber einer alles in allem überaus glücklichen Kindheit trotz aller Bemühungen um gnädiges Vergessen für den Rest seines Lebens mit sich herumschleppte. Ob man nun wollte oder nicht …
Winnie Heller stieß einen tiefen Seufzer aus und stellte sich auf die Zehenspitzen, um unter den zahllosen parkenden Autos ihren Polo auszumachen. Er musste ganz in der Nähe sein, aber der Parkplatz war groß, und es gab wenig, woran sie sich orientieren konnte. Die Plakatwand dort hinten, an der war sie definitiv vorbeigefahren. Und dann? Sie war links neben einem Transporter eingeschert, aber der hatte den Parkplatz vermutlich längst wieder verlassen, und dann hatte sie ihren Wagen in die reichlich enge Lücke zwischen einem rostigen Mini und einem gleichfalls schon recht betagten Benz manövriert. Winnie Heller reckte den Hals, und endlich entdeckte sie nun auch ihren Polo. Dahinter hatten sich in den vergangenen Stunden
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