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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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sich das merkwürdige Gebäude noch einmal bei Tageslicht anzusehen, und sie erinnerte sich gut daran, wie verwundert sie gewesen war, dass Lübkes Laube tatsächlich an einer richtigen Straße stand. Einer normalen Straße, an der wirklich und wahrhaftig Autos parkten. Dass Lübke Nachbarn hatte. Normale Leute, die in normalen Häusern wohnten, die einkauften, ihren Rasen mähten und jeden Sonntag die Bild- Zeitung lasen.
    Sie schaltete einen Gang hinunter und bog in eine schlecht beleuchtete Seitenstraße ein, die von alten Platanen gesäumt war. Im Licht ihrer Scheinwerfer blitzte wirbelndes Laub auf, und Winnie Heller fühlte, wie das Bild unvermittelt die alte Angst zurückbrachte. Sie trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und schaute in regelmäßigen Abständen in den Rückspiegel, doch sie konnte keine Gefahr ausmachen. Da war kein anderes Fahrzeug, das ihr folgte. Kein Licht, das langsam, aber sicher näher kam. Nur Bäume und finstere Fassaden und düster gähnende Toreinfahrten.
    »Alles klar«, flüsterte sie vor sich hin wie ein Kind, das eine dunkle Kellertreppe hinunter soll und sich vor lauter Angst selbst Mut zuspricht. »Da ist niemand. Du bist allein.«
    Allerdings war sie auf einmal nicht mehr sicher, ob diese Tatsache sie beruhigte. Und das, obwohl sie eigentlich immer gern allein gewesen war. Na ja, vielleicht nicht unbedingt gern, zumindest nicht immer, aber sie war ein Mensch, der das aushielt, allein sein. Jemand, der sich mit seinen Traumata und den Gespenstern der Vergangenheit arrangiert hatte. Der sich nicht langweilte, wenn er niemanden zum Reden hatte, solange er lesen oder Fernsehen oder Fische beobachten konnte. Winnie Heller nickte leise vor sich hin. Oh ja, sie war definitiv jemand, der sich selbst ertrug. Mehr oder weniger.
    Aber jetzt?
    Jetzt schien alles anders zu sein.
    Sie spürte, durch den Überfall war etwas in ihr aus dem Gleichgewicht geraten. Etwas, das bis vor wenigen Stunden noch funktioniert hatte. Zumindest einigermaßen. Ihre Finger krampften sich um das Lenkrad. Der Gedanke, dass sie den Halt verloren, dass ihr Leben seine fragile Stabilität eingebüßt haben könnte und dass dieser Zustand sich vielleicht nicht so ohne weiteres würde rückgängig machen lassen, brachte sie beinahe um den Verstand. Um nicht in Panik zu geraten, dachte sie wieder an Lübke. Angeblich war er ein geschickter Heimwerker, der sogar mehrtürige Kleiderschränke bauen konnte. Diese Information hatte sie beeindruckt, auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob sie überhaupt der Wahrheit entsprach. Aber Schränke bauen …
    Das klang so …
    Sie runzelte die Stirn, während sie nachdachte. Solide, schoss es ihr durch den Sinn. Früher hätte sie wahrscheinlich »spießig« gesagt. Vielleicht auch »langweilig«, aber in ihrer augenblicklichen Situation fiel jemand, der mehrtürige Kleiderschränke bauen konnte, eindeutig in die Kategorie »solide«. Brauchen wir denn wirklich das Extreme, dachte sie, bedürfen wir allen Ernstes erst der Begegnung mit dem Entsetzlichen, um schätzen zu lernen, wenn einer verlässlich ist? Brauchbar als Mensch wie als Handwerker?
    Sie wusste es nicht.
    Allmählich wusste sie gar nichts mehr.
    Ihr Kopf war heiß und fühlte sich an, als sei er bis zum Rand mit Watte gefüllt.
    Seufzend überquerte sie die letzte Kreuzung, die sie noch von der Straße trennte, in der Lübke wohnte, und zum ersten Mal kam ihr jetzt der Gedanke, dass sie ihn bei irgendetwas stören könnte. Ihre Augen glitten flüchtig zur Uhr neben dem Tacho. Zwanzig nach eins in der Frühe. Knapp anderthalb Stunden nach Mitternacht. Gut, wenn sie pokerten, wurde es manchmal noch später. Aber an einem ganz gewöhnlichen Wochentag würde selbst ein Mann wie Lübke um diese Uhrzeit vermutlich im Bett liegen, was bedeutete, dass sie ihn wecken musste.
    Wenn du mal in Schwierigkeiten steckst, ruf mich an, okay?, hallte seine Stimme hinter ihrer Stirn, während sie sich tief über das Steuer beugte, um die Häuser, die alle ein wenig zurückgesetzt lagen, besser erkennen zu können. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und was für Anrufe gilt, sollte eigentlich auch für Besuche gelten, dachte sie. Dennoch hatte sie ein mulmiges Gefühl. Immerhin kannten Lübke und sie einander nicht wirklich gut. Sie waren seit ein paar Monaten per Du, ohne sich durch diese intime Anrede wesentlich näher gekommen zu sein. Sie spielten zusammen Poker, und hin und wieder, wenn sie zu viel getrunken hatte, erzählte sie ihm

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