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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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ein bisschen was über sich. Aber jemanden, dem man gelegentlich halb ernst, halb im Scherz ein paar unerfreuliche Begebenheiten aus seiner Kindheit erzählte, mitten in der Nacht aus dem Bett zu klingeln, war etwas grundlegend anderes, oder nicht?
    Ganz gleich, was es ist, wiederholte die vertraute Stimme in ihrem Kopf mit beschwörender Intensität, ruf mich an, okay?
    Nein, dachte Winnie Heller, ich rufe dich nicht an. Ich bin hier.
    Sie hielt im Licht der letzten Straßenlaterne, etwa fünfzig Meter vor Lübkes Haus, das ganz am Ende der Straße lag, und blieb unschlüssig hinter dem Lenkrad sitzen. Was zum Henker sollte sie überhaupt sagen? Wie beginnen? Waren sie denn nicht eigentlich Fremde, Lübke und sie, zwei Menschen, die einander nicht näher kannten und die nur rein zufällig dieselbe Art von Job erledigten?
    Sie biss sich auf die Lippen und zuckte erschreckt zusammen, als sie wieder Blut auf ihrer Zunge schmeckte und der Schmerz, der körperliche, aufs Neue über sie hereinbrach. Mit einem schnellen Blick in den Rückspiegel vergewisserte sie sich, dass nach wie vor nicht viel zu sehen war. Eine aufgesprungene Lippe, eine leichte Rötung, dort, wo sich die Finger ihres Angreifers in ihre Haut gegraben hatten. Ein etwas tieferer Kratzer auf der Wange. Eine Schramme im Nacken und eine abgeschürfte Schulter. Gut, dazu kamen vermutlich noch ein paar Blutergüsse auf den Oberarmen und im Bereich der Rippen. Aber alles in allem nichts Dramatisches.
    Winnie Heller konnte sich lebhaft vorstellen, wie eine Ärztin auf ihre Blessuren reagieren, was sie denken würde, auch wenn sie es vielleicht nicht auszusprechen wagte. Warum haben Sie sich nicht gewehrt? Stärker gewehrt? Richtig gewehrt? Warum sind Sie so gottverdammt heil geblieben?
    Oh nein, dachte sie. Zu einem Arzt kriegen mich keine zehn Pferde! Denn wenn das erst mal durchsickert, kann ich vor den Kollegen einpacken. Die Heller hat es wahrscheinlich ganz gern ein bisschen härter, sonst wäre ihr doch wohl eingefallen, wie man sich anständig zur Wehr setzt, nicht wahr? Immerhin hat sie’s mal gelernt, und wenn es ihr keinen Spaß gemacht hätte, sähe der Kerl jetzt garantiert aus, als wenn er mit ’nem Lkw zusammengestoßen wäre, meint ihr nicht auch?
    Winnie Heller fühlte etwas Warmes auf ihrem Gesicht, und erst mit ein paar Sekunden Verzögerung erkannte sie, dass es Tränen waren. Ihre Tränen. Sie tropften von ihrem Kinn auf ihre Bluse hinunter und hinterließen wässrige Kränze aus zerronnener Wimperntusche auf dem lädierten Stoff. Ich bin tatsächlich noch immer geschminkt, dachte sie mit ungläubigem Staunen. Irgendwann, zu einem Zeitpunkt, der ihr unendlich weit entfernt vorkam, hatte sie sich aufgerüscht, weil das hier ihr Abend hatte werden sollen. Ihr großer Durchbruch als verdeckte Ermittlerin. Ihre Chance, eines Tages vielleicht doch Karriere zu machen, trotz aller Altlasten, die sie mit sich herumschleppte. Ich habe wirklich Glück mit besonderen Abenden, dachte sie mit einem sarkastischen Lächeln. Als ich mich das letzte Mal so aufgebrezelt habe, ist meine Schwester ins Koma gefallen …
    Sie schluckte, wischte die Tränen weg und sah wieder in den Spiegel. Ihre Augen waren so verquollen, dass man kaum noch etwas Weißes darin erkennen konnte. Und auch Rouge und Lippenstift waren verschmiert, wieder verschmiert, noch schlimmer verschmiert als vorhin auf der Toilette, sodass sie alles in allem wie ein derangierter Clown aussah. Hastig fuhr sie sich mit dem Ärmel über Kinn und Wangen, auch wenn sie das dringende Gefühl hatte, damit alles nur noch schlimmer zu machen. Dann spähte sie wieder in die Richtung, in der Lübkes Laube stehen musste. Am Ende der Straße begann eine ausgedehnte Schrebergartensiedlung, an deren Tor, das wusste sie noch, ein Mast mit einer zerschlissenen Deutschlandflagge stand und … Ja, tatsächlich, da schien etwas wie eine Fahne zu sein!
    Sie startete den Wagen und fuhr langsam auf den schemenhaften Mast zu, der in einiger Entfernung in den finsteren Nachthimmel ragte. Die Straße ringsum wurde mit jedem Meter schlechter, aber Winnie Heller wagte es nicht, den Polo stehen zu lassen und den Rest des Wegs zu Fuß zu gehen. Nicht nach allem, was ihr an diesem Abend geschehen war.
    Stattdessen nutzte sie die Einfahrt der Schrebergartensiedlung zum Wenden und kam direkt vor Lübkes Gartentor zum Stehen.
    Die Vorhänge zur Straße waren zugezogen, aber man konnte deutlich erkennen, dass auf der anderen

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