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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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überqueren sollte, aber nicht überqueren konnte, weil sie unter Agoraphobie litt, und sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie sie ihm begegnen sollte.
    Nachdem sie die Tür ihres Apartments hinter sich abgeschlossen, die Sicherheitskette vorgelegt und die Klinke zusätzlich mit einem verkanteten Stuhl gesichert hatte, war sie unter die Dusche gestiegen und hatte sich den Schotter und das Blut und das Make-up und den Schweiß seiner Hände und den Geruch seiner Nähe vom Körper gewaschen. Und die ganze Zeit über hatte sie an die Vergewaltigungsopfer gedacht, denen sie in den vergangenen Jahren begegnet war. An Frauen, die noch Jahrzehnte nach einem Missbrauch versuchten, auf ähnliche Weise die Spuren dessen, was ihnen angetan worden war, zu tilgen. Einfach in den Ausguss zu spülen, was geschehen war. Sich wieder rein zu waschen.
    Nach zehn Minuten hatte sie sich gezwungen, das Wasser abzustellen, indem sie sich wieder und wieder vorgebetet hatte, dass alles halb so schlimm sei. Dass keine Vergewaltigung im eigentlichen Wortsinn stattgefunden hatte. Dass dieser Teil von ihr unangetastet geblieben war, unberührt von dem Mann, an dessen Gesicht sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte.
    Nur ein Überfall, hatte sie gebetsmühlenartig wiederholt.
    Nichts als eine aufgeplatzte Lippe und ein paar Blutergüsse.
    Banalitäten …
    Sie war aus der Dusche gestolpert, hatte sich ein Handtuch um ihren geschundenen Körper geschlungen und eine feuerfeste Lasagneschüssel aus dem Schrank genommen. Dann hatte sie die Tür zu ihrem winzigen Freisitz geöffnet, die Schüssel direkt vor den Türrahmen auf den staubigen Laminatboden gestellt und zugesehen, wie ihre Bluse darin verbrannt war. Der laue Westwind hatte den Rauch des schwelenden Stoffes in ihr Apartment getrieben, ihre Augen hatten getränt wie verrückt, aber sie hatte durchgehalten und immer wieder zerknülltes Schreibmaschinenpapier in die Flammen geworfen, bis von dem Kleidungsstück nur noch ein Häuflein Asche und ein paar angekokelte Knöpfe übrig gewesen waren. Die Knöpfe hatte sie in die Toilette geworfen und fortgespült, und anschließend hatte sie die Asche ihrer Bluse über die Brüstung gekippt und sich vorgestellt, wie die feinen Rußpartikel fünf Stockwerke tief auf den düsteren Bordstein rieselten und dort auf ewig zerstreut wurden. Auf dem Höhepunkt der Aktion hatte ihr Telefon geklingelt, und nach der Bandansage war Lübkes verschlackter Husten aus dem Lautsprecher gequollen.
    Ich bin’s, und ich quatsche dir jetzt schon seit einer geschlagenen halben Stunde alle fünf Minuten auf die Mailbox, hatte er gekeucht. Also melde dich gefälligst, sobald du das hier abhörst, ja?
    Winnie Heller hatte sich die Ohren zugehalten und sich ganz auf ihren selbst fabrizierten Ascheregen konzentriert. Aber die Ruhe, die auf Lübkes Anruf gefolgt war, hatte nur eine knappe Viertelstunde Bestand gehabt. Dann hatte das Telefon erneut zu klingeln begonnen.
    Was zum Teufel ist los mit dir? … Ich habe … Herrgott, noch mal, Mädchen, jetzt geh schon endlich ran. Ich weiß, dass du da bist. Und ich weiß auch, dass du das warst. Vorhin, meine ich. An meiner Tür. Also nimm gefälligst ab, okay?
    Winnie Heller hatte dem Apparat den Mittelfinger gezeigt und den Stecker aus der Wand gerissen. Dann hatte sie einen frischen Schlafanzug aus dem Schrank genommen und war ins Bett gegangen.
    Zu ihrer eigenen Verwunderung war sie schnell und unkompliziert eingeschlafen und erst gegen halb sieben, ihrer üblichen Zeit, wieder aufgewacht. Nach einem kärglichen Frühstück, zu dem sie sich mit aller Gewalt hatte zwingen müssen, hatte sie ihr Aquarium gereinigt, die Fische gefüttert, den Kühlschrank abgetaut, die Kacheln in der Dusche mit Scheuermilch und Essigreiniger bearbeitet und eine Einkaufsliste für ihren nächsten Abstecher zum Discounter um die Ecke gemacht. Und jetzt saß sie an dem runden Tisch, der ihr als Essplatz und Schreibtisch zugleich diente, und hatte keine Ahnung, was sie mit dem Rest des Tages anstellen sollte. Wie sie es schaffen konnte, in all diesen Stunden, die vor ihr lagen, nicht wieder und wieder über die Frage nachzugrübeln, warum sie sich wie ein paralysiertes Kaninchen benommen hatte, anstatt diesem Mistkerl, der glaubte, einfach so über sie herfallen zu können, in die Eier zu treten und ihm selbige anschließend mitten in sein dreckiges Maul zu stopfen. Immerhin war sie Polizistin, Herrgott noch mal! Jemand, der

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