Querschläger
statt in die Tonne geworfen zu haben, dachte Winnie Heller müde, oder aber …
»Also schön, gebt es zu, Leute«, rief sie mit einem ironischen Lächeln in Richtung ihrer Fische. »Einer von euch Jungs hat schon wieder auf das verfilzte Rasenstück neben dem Fahrradschuppen uriniert, und jetzt will die Alte, dass ich …«
Sie unterbrach sich und dachte unbehaglich an ihre nächtliche Blusenverbrennung. Vielleicht war der verdammte Rauch nicht nur in ihr Apartment, sondern auch noch in ein paar von den anderen Wohnungen gezogen. Immerhin schliefen die meisten Leute um diese Jahreszeit noch immer bei offenem Fenster. Vielleicht hatte sich jemand beschwert, nachdem er festgestellt hatte, dass seine Fensterbank über Nacht mit einer dicken Schicht Asche überzogen worden war. Vielleicht …
Was soll ich bloß sagen, wenn die Estrich jetzt mit dem Hausverwalter hier aufkreuzt?, überlegte Winnie Heller fieberhaft. Wie soll ich einem Unbeteiligten erklären, dass ich hier, in dieser winzigen Mietwohnung, mitten in der Nacht ein offenes Feuer entfachen musste, um eine Bluse loszuwerden, die mich ansonsten auf immer und ewig an etwas erinnert hätte, das ich so schnell wie möglich vergessen will?
Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass Sie die Neigung besitzen, Ihr Verhalten zu ritualisieren, plapperte Dr. Zilcher, der Therapeut, der sie nach dem Unfall ihrer Schwester betreut hatte, hinter ihrer Stirn. Sie sah ihn schon seit Jahren nicht mehr, nicht, seit sie ihre stationäre Therapie abgebrochen hatte, um mit einem Jahr Verspätung doch noch die Ausbildung für den gehobenen Polizeidienst anzutreten, aber manchmal hörte sie ihn sprechen, fast so, als befände er sich im selben Raum mit ihr. Aber Rituale, sagte er jetzt, so hilfreich sie auch sein mögen, können nur schwerlich das ersetzen, was echte Aufarbeitung, was die behutsame und unter kompetenter professioneller Anleitung stattfindende Konfrontation mit den eigenen Traumata zu erreichen vermag …
»Bei Gott, Zilcher, du erzählst wirklich immer denselben Müll!«, beschwerte sich Winnie Heller, als es abermals an der Tür läutete.
Sie hielt sich ganz still und wartete.
Und wieder die Klingel. Zweimal. Dreimal …
Das ist auf keinen Fall die Estrich, dachte Winnie Heller, während sie sich mit wild klopfendem Herzen zur Wohnungstür hinüberschlich. Diese verdammte Alte war zwar hartnäckig, aber so penetrant war sie nun auch wieder nicht!
Sie warf einen flüchtigen Blick durch den Spion, doch der Treppenabsatz vor ihrer Wohnung war leer. Also nahm sie so leise wie möglich den Hörer der Gegensprechanlage aus der Halterung und lauschte in die knisternde Stille. Keine Atemzüge, keine Stimmen, niemand, der »Hallo, hallo« oder ihren Namen rief, kein unbekannter junger Mann, der behauptete, im Besitz eines Paketes zu sein, das er ihr unbedingt aushändigen müsse, oder ihre Haltung zu irgendeiner politischen oder gesellschaftlichen Frage erkunden wollte. Nur das entfernte Geräusch eines startenden Wagens und das Rauschen der Atmosphäre.
Wer immer das gewesen ist, hat aufgegeben, dachte Winnie Heller erleichtert. Gleichzeitig fühlte sie eine leise Beunruhigung darüber, dass sie nun möglicherweise nie erfahren würde, wer da versucht hatte, sie zu sprechen. Und auch ein wachsendes Unbehagen. Immerhin war ihr Handy bis vor wenigen Minuten ausgeschaltet gewesen. Und auch über den Festnetzanschluss hatte man sie nun schon seit Stunden nicht erreichen können. Sie dachte an Verhoeven, der sie im vergangenen Jahr schon einmal wegen eines Leichenfundes aus dem Urlaub geholt hatte. Oder aber Auerbach brauchte ihren Bericht nun doch schon früher!
Seufzend hängte sie den Hörer der Gegensprechanlage wieder ein und starrte auf den Türdrücker. Im Geiste hörte sie bereits die knarrende Stimme von Burkhard Hinnrichs, dem Leiter des KK11: Verdammt noch mal, Heller, eine Beamtin der Mordkommission hat immer erreichbar zu sein, haben Sie das verstanden? Vierundzwanzig Stunden am Tag. Und ich verlange von meinen Leuten grundsätzlich den maximalen Einsatz. Sonst wird das nichts mit der Karriere, das kann ich Ihnen versichern …
Ein Geräusch vor der Wohnungstür ließ sie aufhorchen.
Schwere, suchende Schritte.
Dann ein erneutes Klingeln, gefolgt von einem energischen Pochen und reichlich mühevollen Atemzügen.
»Winnie?«
Scheiße noch mal, das war Lübke! Winnie Heller presste sich ganz an die Wand, obwohl ihr bewusst war, dass der Leiter
Weitere Kostenlose Bücher