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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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schon allein aufgrund seiner Ausbildung auf Situationen wie die von gestern Abend vorbereitet sein sollte. Der sich zu verteidigen wusste …
    Sie beobachtete ihre Finger, die eifrig und konzentriert ein bisschen altes Kerzenwachs von der Tischplatte kratzten, und hatte das unangenehme Gefühl, dass sie drauf und dran war, den Verstand zu verlieren. Wie sollte sie sich selbst je wieder vertrauen können, wenn sie wusste, dass sie in einer Situation wie der gestrigen derart kläglich versagte? Wie sollte sie weitermachen mit dem, was ihr so viel bedeutete? Wie, um alles in der Welt, sollte sie ihren Job erledigen, wenn sie es nicht einmal schaffte, sich selbst zu beschützen? Sie stand auf, weil sie urplötzlich einen brennenden Durst verspürte, und nahm sich ein Glas Wasser aus der Leitung, das sie gleich an Ort und Stelle hinunterkippte und anschließend ein zweites Mal auffüllte. Als sie wieder am Tisch saß, fiel ihr Blick auf den Anschluss des Telefons, der noch immer neben der Steckdose auf dem Boden lag. Ob sich Lübke inzwischen beruhigt hatte? Konnte sie es wagen, wieder erreichbar zu sein?
    Sie widmete sich erneut den Wachsresten auf der Tischplatte und überlegte, woher Lübke überhaupt gewusst hatte, dass sie es gewesen war, die da mitten in der Nacht an der Tür zu seiner komischen kleinen Laube geklingelt hatte. Hatte er sie am Ende doch gesehen, von irgendwo her? Hatte er das Erbrochene in seiner Hecke analysiert? Oder hatte sein in die Jahre gekommener Betthase etwa eine derart gute Beschreibung von ihr abgeliefert, dass Lübke sofort genickt und gebrummt hatte: Ein Sommertyp und Lippen wie bei einem derangierten Clown, sagst du? Tja, das kann eigentlich nur die kleine Heller gewesen sein, einer von den Frischlingen bei der Mordkommission. Was die wohl wollte?
    Winnie Heller seufzte und starrte das Telefon an. Was, wenn es einen Notfall gab? Wenn sie ins Präsidium gerufen wurde, weil irgendwo im Stadtgebiet ein Spaziergänger über eine enthauptete Frauenleiche oder doch wenigstens über einen fragwürdigen Selbstmörder gestolpert war? Sie atmete ein paarmal tief durch und straffte die Schultern. Die Aussicht, vielleicht doch vorzeitig von der Last dieses freien Tages erlöst zu werden, erschien ihr mit einem Mal derart verlockend, dass sie aufstand und das Telefonkabel wieder in die dazugehörige Buchse stöpselte. Anschließend schaltete sie auch ihr Handy ein, das sieben neue Nachrichten anzeigte. Sie löschte alle sieben, ohne auch nur eine einzige von ihnen angehört zu haben. Dann ging sie wieder ins Bad hinüber und inspizierte die Schramme in ihrem Gesicht, neben der nun, im hellen Tageslicht, auch noch ein paar kleinere, halbkreisförmige Blessuren sichtbar waren, die offenkundig von den Nägeln seiner Finger stammten. Aber mit ein wenig Make-up und einer dicken Schicht Puder würde wahrscheinlich kaum etwas zu sehen sein!
    Winnie Heller klatschte in die Hände und griff dann beherzt in die Schublade, in der sie ihre spärlichen Vorräte an dekorativer Kosmetik aufbewahrte. Du wirst auch einen Aidstest machen müssen, dachte sie, indem sie die alte und selten benutzte Make-up-Tube aufschraubte und mit einem schmerzvollen Zischen eine großzügig bemessene Portion Abdeckcreme auf ihren Schrammen verteilte. Auch wenn es zu keinem Vollzug gekommen ist …
    Vollzug!, höhnte eine böse kleine Stimme tief in ihr. Du redest schon wie eine von diesen Anwältinnen, die die Missetaten ihrer Mandanten hinter einer Menge leerer Worthülsen zu verbergen suchen.
    Sie fuhr erschrocken zusammen, als im selben Augenblick die Türklingel ertönte. Wer in aller Welt wagte es, bei ihr zu klingeln? Noch dazu an ihrem freien Tag?
    Die Estrich, dachte sie und meinte ihre Nachbarin aus dem zweiten Stock, die ihrer Ansicht nach den Inbegriff dessen verkörperte, was man gemeinhin eine »Heimsuchung« nennt. Und das nicht nur, weil sie zu laut, zu neugierig und zu stark geschminkt war und sich die Haare obendrein auch noch an jedem zweiten Abend auf heiße Wickler drehte, bis sich die honigblond gefärbte Pracht unter dem aschgrauen Ansatz in eine klingonische Zottelmähne verwandelte, sondern auch und vor allem, weil Norma Estrich ungefähr die Hälfte ihrer mindestens fünfundachtzig Lenze in diesem Haus verbracht hatte und aus dieser Tatsache einen Haufen Privilegien und Rechte ableitete, mit denen sie die übrigen Mieter zu schikanieren pflegte.
    Bestimmt werde ich wieder verdächtigt, meinen Müll hinter

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