Querschläger
anderen, indem sie mit jedem vögeln, der sie länger als fünf Sekunden anguckt.
Tja, und wieder andere, indem sie etwas tun, das Schlagzeilen macht. Etwas, von dem schon in einer Stunde die ganze Welt sprechen wird …
4
Raum 304, 3. Stock, 11:44 Uhr
Jessica Mahler beißt auf das Ende ihres Bleistifts, bis es knirscht. Die Luft um sie herum ist so dick, dass man sie in Scheiben schneiden könnte. So ist es immer, wenn der Sommer endgültig vorbei ist, denkt sie, und mit einem Mal fühlt sie sich eingesperrt. Festgenagelt. Hineingezwungen in eine Situation, die sie nicht haben will. In ein und denselben Raum gepfercht mit Menschen, die ihr zutiefst zuwider sind. Zumindest einige von ihnen.
Hass, denkt sie, ist ein starkes Wort.
Aber sie findet auch kein anderes für das, was sie fühlt.
Nichts als Hass …
Konzentrier dich, denkt sie und sieht zur Wand hinter dem Pult, an die der überalterte Overheadprojektor eine Grafik wirft. Eine Lostrommel mit neun schwarzen und vier roten Kugeln. Etwas, das einen Bezug zum wahren Leben hat. Frau Malgorias hält große Stücke auf Didaktik. Bei ihr muss alles sinnvoll sein. Praxisorientiert. Nachvollziehbar.
Unter der Lostrommel schweben ein Baumdiagramm und eine Reihe von Aufgaben. Unter Annahme der Gleichverteilung sind die Wahrscheinlichkeiten folgender Ereignisse zu berechnen …
Das Baumdiagramm erzittert unter Jessica Mahlers Blick, und sie fragt sich, ob das an ihr selbst liegt, an ihren Nerven, oder ob jemand versehentlich an den Tisch gekommen ist, auf dem der Projektor steht. Als sie keine Antwort findet, schließt sie für einen kurzen Augenblick die Augen und horcht in sich hinein.
»… schon fertig?«
»Wie bitte?«
Sie blickt auf und sieht Frau Malgorias’ Gesicht direkt vor sich. Es verdeckt einen Teil der Grafik an der Wand. »Wenn Sie fertig sind, können wir die Folie …«
Jessica Mahler schüttelt hastig den Kopf. Und sie hat Glück. Auch unter ihren Klassenkameraden regt sich Widerstand.
Noch nicht.
Augenblick bitte.
Hey, ich bin noch nicht mal zur Hälfte fertig.
Frau Malgorias zieht den Kopf ein und hebt entschuldigend die Hände, während Jessica Mahler eilig den Arm über ihr noch immer leeres Blatt legt. Wenn Frau Malgorias das eben gesehen hätte. Wenn sie …
Bei viermaligem Ziehen ohne Zurücklegen seien alle gezogenen Kugeln rot … Jessica Mahler bekaut ihren Bleistift. Wie lautet für ein vierstufiges Zufallsexperiment noch gleich die Pfadmultiplikationsregel? Sie starrt an die Wand und überlegt, aber ihr will einfach nichts Passendes einfallen. Dabei scheinen ihr die roten Kugeln aus der Grafik förmlich ins Gesicht zu springen. Ahnung hat sie trotzdem keine. Dabei ist Mathe noch eins ihrer besseren Fächer. Normalerweise.
Während sie versucht, beschäftigt auszusehen, schielt sie zu Lukas Wertheim hinüber. Sie hat sich mal eingebildet, in ihn verliebt zu sein, irgendwann zu einer Zeit, die ihr heute wie aus einem anderen Leben vorkommt. Damals hat sie gefunden, er sähe gut aus, blendend sogar, dunkelhaarig, sportlich, was auch immer. Heute sieht sie das alles ein wenig anders. Differenzierter. Natürlich sieht Lukas Wertheim gut aus. Verdammt gut sogar. Aber gutes Aussehen ist schließlich nicht alles. Nichtsdestotrotz hat sie sich eine Zeit lang gefragt, warum ausgerechnet sie nicht zu dem Kreis von Mädchen gehört, die er beglückt. Immerhin ist er nicht gerade als wählerisch verschrien. Und vielleicht ist es das, was ihr am meisten wehgetan hat. So weh, dass sie sogar bereit war …
Dieser Scheißkerl scheint zu spüren, dass sie ihn ansieht, denn er hebt den Kopf und richtet seinen Betörerblick auf sie. Er schneidet durch die schwüle Luft wie ein Pfeil und brennt sich ungeniert in ihrem Gesicht fest. Und noch immer kann sie nicht richtig denken, wenn er sie so ansieht. Es ist fast, als sauge sein Blick das letzte bisschen Konzentration aus ihr heraus. Jessica Mahler stellt sich seinen Geruch vor, das ebenso dezente wie teure Aftershave, das er benutzt, und fühlt, wie ihr übel wird. Wie lächerlich, sich von einem Paar brauner Augen einwickeln zu lassen, denkt sie. Ich kann nicht ganz bei Trost gewesen sein, als ich mit ihm mitgegangen bin! Er ist schon immer sehr charmant gewesen, bemüht sich ihr Verstand um eine Entschuldigung für das Unentschuldbare. Ja, zur Hölle, denkt sie, die Sache mit dem Verführen hat dieser Scheißkerl wirklich drauf! Sie beißt sich auf die Lippen und bemüht sich verzweifelt,
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