Querschläger
nicht rot zu werden. Vor Verlegenheit. Vor Scham, derart dumm gewesen zu sein. Ihm etwas in die Hand gegeben zu haben, mit dem er sie …
Er guckt noch immer, aber sie will auf keinen Fall diejenige sein, die zuerst den Blick abwendet. Das würde sie irgendwie als Niederlage empfinden. Und ihre Position ist auch so schon nicht die beste. Da kann sie sich weiß Gott keine Niederlage leisten. Nicht noch eine. Ich wünschte, er wäre tot, denkt sie, während sein Gesicht unter ihrem Blick immer unschärfer wird. Ich wünschte, ich müsste mich niemals wieder vor diesem elenden Mistkerl fürchten. Vor dem, was er sagt. Wem er es sagt. Vor den Beweisen, die er hat.
Jetzt guck schon endlich weg, du Wichser!
Aber Lukas Wertheim denkt gar nicht daran, wegzusehen. Er ist sich seiner Macht bewusst. Er glaubt, dass er sie in der Hand hat. Jetzt legt er den Kopf in den Nacken und leckt mit anzüglicher Miene an der Kappe seines Kugelschreibers.
Und Jessica Mahler fühlt, wie sie nun doch rot wird. Noch röter. Flammend rot. Oh ja, er hat ihr die Aufnahmen vorgespielt. Die, auf denen sie mit ihm … Du darfst nicht daran denken. Du musst cool bleiben. Er wird diese Aufnahmen niemandem zeigen. Niemandem außer dir. Er scherzt nur. Verhöhnt dich. Das alles ist nichts als ein abartiger, makabrer Witz. Doch wenn sie ehrlich ist, weiß sie genau, dass Lukas Wertheim nicht scherzt. Dass er Ernst machen und die Aufnahmen ihrer Mutter zeigen wird, wenn sie nicht spurt. Wenn sie ihm nicht besorgt, was er haben will. Dieser elende, dämliche Wichser!
Aber jetzt guckt er wenigstens nicht mehr, so viel immerhin hat sie erreicht. Dass Mr. Wunderbar zuerst den Blick abgewendet hat. Und sei es auch nur, um Angela Lukosch auf ihre falschen Titten zu glotzen.
Ich wünschte, Lukas Wertheim wäre tot, denkt sie wieder, dann richtet sie den Blick auf die Wand, wo die Grafik mit der Lostrommel inzwischen einer anderen Platz gemacht hat. Die Uhr über der Tür zeigt Viertel vor zwölf. Vierzehn Minuten später hat sich ihr Wunsch erfüllt …
Toilette 099, Erdgeschoss, 11:46 Uhr
Nikolas Hrubesch steht in einer der Toiletten im Erdgeschoss des Altbaus an der Aarstraße. In einer Toilette, die wie alle anderen Sanitäreinrichtungen des Gebäudes über einen schmutzigen kleinen Vorraum verfügt. Und ein winziges, annähernd quadratisches Fenster in der bekritzelten Wand zwischen den beiden hinteren Kabinen.
Dass es eine Toilette für Mädchen ist, spielt keine Rolle. Zumindest keine große.
Es riecht nach gar nichts hier, denkt er, nicht mal nach erkaltetem Zigarettenrauch. Aber das liegt daran, dass diese Toilette die mit Abstand unbeliebteste auf dem gesamten Schulgelände ist. Das hat er selbstverständlich abgecheckt. Vorher. Wer in welche Toilette geht, um zu rauchen. Zu kotzen. Zu pinkeln. Sich die Lippen nachzuziehen. Eine von den Pillen einzuwerfen, die irgendein lieber Onkel Doktor als Konzentrationshilfe für anstehende Klassenarbeiten verschrieben hat. Was auch immer. Und die Toilette, in der er jetzt steht, wird konsequent gemieden. Vielleicht, weil das Büro vom Direktor und das Lehrerzimmer nur ein paar Meter weiter sind. Den Gang runter.
Nikolas Hrubesch kneift die Augen zusammen. Sein Gesicht sieht ungewöhnlich blass aus im Spiegel, obwohl er das Licht ausgeschaltet hat, als er hereingekommen ist. Trotzdem sieht er aus wie Scheiße. Vielleicht auch ein Grund dafür, dass die Mädchen des Clemens-Brentano-Gymnasiums dieser Toilette so konsequent aus dem Weg gehen.
Er packt seine Waffen aus, lehnt das Gewehr an die Wand, legt die Glock auf den Rand des Waschtischs und zieht eine Rolle Frischhaltefolie aus seinem Rucksack. Dann beginnt er, sein Gesicht und seine Haare zu umwickeln. Mund und Augen lässt er frei. Die Folie reicht gerade so. Er hat genau abgemessen, wie viel er benötigt, um keinen Rest übrig zu behalten, der jemandem zu denken geben könnte. Die leere Papprolle, auf die das dünne Plastik gewickelt war, wirft er in den Mülleimer in einer der Kabinen. Niemand wird ihr irgendeine Bedeutung beimessen.
Nikolas Hrubesch zupft die Folie zurecht und überlegt, ob er am Ende vielleicht doch ein bisschen zu vorsichtig ist. Aber er hat zu viele Forensik-Serien gesehen, als dass er riskieren würde, dass sich ein Haufen fremder DNA auf der Kleidung des Attentäters findet. Nicht, dass die Bullen sehr gründlich sein werden. Wozu auch? Die Sache wird vollkommen eindeutig sein. Ein Schüler, der dem Druck ehrgeiziger
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