Querschläger
musste Winnie Heller an eine groteske Lasershow denken, an die Lichtsäulen im Rhythm’s Cube. An fremde Gesichter, die vor ihr aufblitzten, zuckend und bleich, um anschließend sofort wieder in ruheloser Düsternis zu verschwinden. Und an lackierte Blätter, die mit bizarrer Schärfe vor einem pechschwarzen Himmel standen, während ein Kerl, dessen Gesicht in ihrer Erinnerung nichts als ein konturloser Schatten war, am Reißverschluss seiner Hose zerrte …
Sie atmete tief durch und versuchte, die Bilder zu verdrängen, die seit gestern Nacht wieder und wieder durch ihren Kopf flimmerten, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Auf Verhoeven, der voranging, und die Arbeit, die sie zu erledigen hatten. Über ihren Köpfen knatterten die Rotorblätter eines Hubschraubers, der vermutlich ein Kamerateam an Bord hatte. Eines von denen, die noch immer nicht aufgegeben hatten. Die selbst jetzt, Stunden nach der Tragödie, noch immer auf neue, interessante Bilder hofften. Auf irgendetwas Spektakuläres, über das sich berichten ließ. Winnie Heller schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans und merkte, dass ihr kalt war. Verdammt kalt sogar. Sie dachte an die Strickjacke, die sie normalerweise im Auto hatte und die nun zu Hause im Wäschekorb lag, weil sie mit etwas in Berührung gekommen war, das sie entweiht hatte, und fragte sich, ob sie es jemals wieder über sich bringen würde, diese Jacke zu tragen. Dabei fiel ihr auch ihr Handy ein, das sie vor der Besprechung in Hinnrichs’ Büro aus- und seither wohlweislich nicht wieder eingeschaltet hatte, und schon jetzt graute ihr vor dem Moment, in dem sie nicht umhinkonnte, es wieder zu benutzen. Jenem Augenblick, in dem zwangsläufig all die Nachrichten über sie hereinbrechen würden, die Lübke in der Zwischenzeit hinterlassen hatte. Oder vielleicht doch nicht? Immerhin hatte er im Augenblick weiß Gott Besseres zu tun, als sich um einen von Hinnrichs’ Frischlingen zu kümmern, der es einfach nicht auf die Reihe kriegte. Um eine Versagerin, die zu blöd war, sich das Gesicht eines Mannes einzuprägen, der mitten in der Nacht über sie herfiel in der festen Absicht, ihrem Körper und ihrer Seele Gewalt anzutun. Winnie Heller schluckte, als sie merkte, wie ihr Herz aufs Neue zu rasen begann. Oh nein, dachte sie, Lübke ist beschäftigt heute Abend. Wir alle sind beschäftigt. Es ist etwas geschehen in dieser Stadt, etwas, das so ungeheuerlich ist, dass es uns alle bis an die Grenzen unserer Belastbarkeit fordern wird.
Entschlossen riss sie die Hände aus den Taschen, obwohl sie nach wie vor fror, und beeilte sich, zu Verhoeven aufzuschließen, der bereits ein ganzes Stück voraus war. Er trug eine anthrazitfarbene Wildlederjacke über seinem hellblauen Businesshemd, und Winnie Heller überlegte, wie er es fertigbrachte, immer und überall passend gekleidet zu sein. Eine Jacke zur Hand zu haben, wenn er eine brauchte. Oder eine Krawatte. Wahrscheinlich legte ihm seine von Kopf bis Fuß durchgestylte Frau jeden Abend den halben Schrankinhalt auf die Bettkante, damit er immer und überall einen guten Eindruck hinterließ und eines schönen Tages vielleicht sogar eine Abteilung leitete. Oh ja, dachte Winnie Heller giftig, wenn er so weitermacht, immer schön unauffällig bleibt und den richtigen Leuten zur richtigen Zeit den Arsch küsst, läge das durchaus im Bereich des Möglichen! Sie bedachte die tadellos geputzten Schuhe ihres Vorgesetzten mit einem verächtlichen Blick, dann betraten sie Seite an Seite den Altbau des Clemens-Brentano-Gymnasiums.
An einer verwaisten Pförtnerloge vorbei gelangten sie in einen typischen, mit hellgrauem Linoleum ausgelegten Schulflur, von dem zu beiden Seiten eine Reihe von Türen abzweigten. Die Luft war schal und abgestanden, aber zu Winnie Hellers Erleichterung roch sie weder nach Blut noch nach Schießpulver. Allerdings hatte sie das Gefühl, einen deutlichen Nachhall des panischen Entsetzens zu spüren, das die Flure dieser Schule erst vor wenigen Stunden erfüllt hatte. Eine zurückhängende Angst, die schwer und drückend wie eine nasse Wolldecke über dem Gebäude lag.
»Das dort drüben müsste das Lehrerzimmer sein«, sagte Verhoeven und deutete auf eine von zwei Türen zur Rechten.
Die beiden Räume, die sich dahinter verbargen, lagen ein wenig zurückgesetzt, genau, wie es auf dem Raumplan bereits angedeutet gewesen war. Zwischen den Eingängen standen zwei augenscheinlich ziemlich betagte Kopierer mit
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