Querschläger
der Kloschüssel, in die sie sich übergab.
6
»Sagen Sie«, begann Verhoeven, als sie gegen halb elf im Aufzug des gerichtsmedizinischen Instituts standen. »Was ist eigentlich mit Ihrem Gesicht passiert?«
Winnie Heller tastete nach der Schramme auf ihrer Wange. Es war eine automatische Geste, derer sie sich erst bewusst wurde, als es schon zu spät war. Trotzdem fragte sie so harmlos sie konnte: »Was meinen Sie?«
Eigenartigerweise schien die unerwartete und angesichts ihrer erhobenen Hand auch gänzlich unsinnige Rückfrage ihren Vorgesetzten zu verunsichern. Oder es dämmerte ihm, dass er zu weit gegangen war. Dass er an etwas rührte, das er besser übergangen hätte. Immerhin war es durchaus denkbar, dass sie einfach nur irgendeinen Ausschlag hatte. Eine Allergie auf eine neue Nachtcreme. Jedenfalls etwas, das ihn nichts anging.
»Ich dachte, Sie seien verletzt«, sagte er, ohne noch einmal genauer hinzusehen, aber er tippte sich wie zur Erklärung auf die Wange.
»Ach das.« Winnie Heller winkte ab. »Tja, ich sage Ihnen, legen Sie sich nie mit Katzen an, denn da ziehen Sie unter Garantie den Kürzeren.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Katze haben«, entgegnete Verhoeven, und sie hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass er ihr glaubte, auch wenn sie nicht hätte sagen können, woran sie das festmachte. »Ist die denn kompatibel mit Ihren Fischen?«
»Oh nein«, lachte sie und kam sich nun auch selbst entsetzlich unglaubwürdig vor. »Es war nicht meine Katze. Sie … Sie gehört einer Freundin.«
Er nickte nur, und sie überlegte fieberhaft, ob sie noch mehr sagen sollte, eine halbwegs plausible Erklärung abgeben, aber es fiel ihr auf die Schnelle nicht viel Brauchbares ein. Also starrte sie auf den Boden des Lifts hinunter und zählte die Sekunden, bis der Fahrstuhl endlich stoppte.
Verhoeven machte einen Schritt rückwärts, um ihr den Vortritt zu lassen, und gemeinsam gingen sie in den Autopsiesaal hinüber, der an diesem Abend den Eindruck machte, als werde dort eine Art makabrer Tag der offenen Tür veranstaltet. Auf sämtlichen verfügbaren Tischen waren die Körper von Nikolas Hrubeschs Opfern aufgebahrt. Dazwischen hatte man Paravents aufgestellt, um den Pathologen wenigstens einen Hauch von Rückzugsmöglichkeit und überdies die nötige Ruhe zum Arbeiten zu verschaffen. Sektionsgehilfen in grünen Kitteln rannten geschäftig umher, mehrere Personen sprachen mit gedämpften Stimmen in ihre Diktiergeräte, und über allem schwebte der wenig erfreuliche Geruch von Desinfektionsmitteln und Tod.
Dr. Isabelle Gutzkow, die zuständige Gerichtsmedizinerin, war gerade im Gespräch mit einem ihrer Untergebenen, als sie Verhoeven und seine Kollegin bemerkte. Sie war eine stattliche Frau von Anfang fünfzig, deren maskulines Äußeres und alles in allem recht einschüchterndes Wesen ihr den Spitznamen »Potemkin« eingetragen hatte. Nach dem Panzerkreuzer, pflegten die Beamten des nordhessischen Polizeipräsidiums augenzwinkernd hinzuzufügen, wann immer sie Dr. Gutzkows Spitznamen gegenüber einem Frischling enthüllten, nicht nach dem Typen, der mit Katharina rumgemacht hat. Heute allerdings sah die Gerichtsmedizinerin, die sich in ihrer raren Freizeit dem Vernehmen nach mit Gartenarbeit und Reiten fit hielt und angeblich auch zwei Schäferhunde ihr Eigen nannte, reichlich mitgenommen aus. Die klinische Helligkeit des Sektionssaales ließ ihre Züge fahl und müde aussehen, und unter ihren grauen Wissenschaftleraugen lagen tiefe Schatten.
»Nee, nee, nee«, stöhnte sie, indem sie zunächst Winnie Heller und dann Verhoeven die Hand entgegenstreckte. »So wat wie dette hab ick in dreiundzwanzig Berufsjahren noch nich erlebt. Wir mussten drei Kollegen anfordern, sonst wären wir wahrscheinlich Weihnachten noch nicht fertig.« Sie schüttelte den Kopf, und Winnie Heller, die um die Sparsamkeit ihrer emotionalen Äußerungen wusste, konnte sehen, dass die Pathologin bei aller zur Schau getragenen Burschikosität tief erschüttert war. »Ja, ja, fahren Sie ihn gleich rüber zum Röntgen«, wies sie einen Mitarbeiter an, der eine mit einem grauen Leichentuch bedeckte Stahlbahre vor sich her schob und seine Chefin fragend anblickte. Dann wandte sie sich wieder an Verhoeven und seine Kollegin. »Ihr Mann liegt gleich da drüben.« Sie deutete auf den vorletzten Autopsietisch vor der Wand. »Ich persönlich hätte es ja für angebracht gehalten, ihn warten zu lassen, bis wir mit seinen Opfern
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