Querschläger
durch sind, aber Ihr Boss scheint in diesem Punkt grundlegend anderer Meinung zu sein.« Die Erinnerung an das Telefonat mit Hinnrichs entlockte ihr ein abfälliges Brummen. »Na, wie auch immer, bringen wir’s hinter uns.«
Die beiden Kommissare folgten der Pathologin zu dem Autopsietisch, auf dem die Leiche jenes Jungen lag, von dem die Welt dort draußen annahm, dass er zunächst wild und planlos um sich geschossen und sich dann, im Angesicht des heranrückenden Sondereinsatzkommandos, eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Genau wie so viele andere Attentäter vor ihm.
»Uns interessiert in erster Linie das Projektil, das den Jungen getötet hat«, erklärte Verhoeven, und dem leisen, durchaus nachsichtigen Schmunzeln der Gerichtsmedizinerin war deutlich zu entnehmen, dass sie bereits hinreichend mit dieser Tatsache vertraut war.
»Ja doch, sicher, ist bereits alles im Labor«, nickte sie. »Die Kollegen von der Ballistik sind gerade dabei, es mit der sichergestellten Glock abzugleichen, und bei all dem Druck, den Ihr Boss in dieser Angelegenheit verbreitet, werden Sie das Ergebnis vermutlich noch heute Nacht bekommen.«
Sie watschelte um den Autopsietisch herum und entfernte das Tuch, das Nikolas Hrubeschs Körper bis dato verhüllt hatte. Der Y-Schnitt, der seine inneren Organe freigelegt hatte, war bereits wieder vernäht, und selbst die Schädeldecke, die im Zuge der Obduktion geöffnet worden war, saß inzwischen wieder dort, wo sie hingehörte.
»Also schön, Ihr Amokläufer ist einen Meter dreiundachtzig groß und knapp achtundsiebzig Kilo schwer«, resümierte Dr. Gutzkow, indem sie routiniert in einen Pappkarton mit Latexhandschuhen griff und zwei Paar heraus fingerte. »Er ist nicht gerade umwerfend sportlich, aber alles in allem in einem vernünftigen Allgemeinzustand. Die körperliche Entwicklung ist altersgemäß, und auf den ersten Blick konnte ich keinerlei innere Erkrankungen feststellen. Übrigens auch nichts, das auf Drogenmissbrauch oder Ähnliches hindeuten würde. Im Gegenteil: sauberes, gesundes Gewebe allenthalben.« Sie warf Verhoeven über den Tisch hinweg einen hastigen Blick zu und ergänzte dann mit typisch wissenschaftlicher Vorsicht: »Die Blutwerte und das Ergebnis der toxikologischen Untersuchung stehen natürlich noch aus. Ebenso die Analyse des Mageninhalts, aber die ist in diesem Fall ja wahrscheinlich ohnehin zweitrangig.«
Beim Stichwort »Mageninhalt« musste Winnie Heller unwillkürlich an die Tüte denken, die Verhoeven ihr in den Arm gedrückt hatte, vorhin, bei McDonald’s. Sie hatte sich kategorisch geweigert, ihn in das Schnellrestaurant zu begleiten, und auf seine Frage, was er ihr mitbringen solle, lediglich mit einem wenig freundlichen »Nur Kaffee« geantwortet. Nichtsdestotrotz hatte er zwei von diesen blöden Papiertüten bei sich gehabt, als er ein paar Minuten später mit eiligen Schritten über den verdreckten Parkplatz gehastet war. Er war eingestiegen und hatte ihr dann kommentarlos eine der Tüten hingehalten. Und sie hatte diese Tüte entgegengenommen, weil sie keine Lust gehabt hatte, sich ausgerechnet an einem Abend wie diesem mit ihm zu streiten. Die Tüte hatte einen lauwarmen Big Mac und eine große Portion Pommes frites enthalten, dazu Ketchup, Mayo, eine von diesen widerlich süßen Apfeltaschen und – oh Wunder! – einen Becher Kaffee. Trotzdem hatte Winnie Heller einen kurzen Moment lang mit dem Gedanken gespielt, das Fenster hinunterzukurbeln und die Tüte einfach aus dem fahrenden Wagen zu werfen, aber dann war ihr eingefallen, dass sie ihre Energiespeicher auffüllen musste. Schließlich war niemandem geholfen, wenn sie irgendwann aus lauter Sturheit zusammenklappte. Also hatte sie gegessen. Schweigend hatte sie vor sich hin gemampft, genau wie Verhoeven, der sich einhändig Pommes frites in den Mund geschoben und an jeder roten Ampel in seinen Big Mac gebissen hatte. Die Erinnerung an ihren tief über das Steuer des Wagens gebeugten, Fast Food kauenden Boss veranlasste Winnie Heller, unauffällig nach Verhoevens Hemd zu schielen, das jedoch zu ihrem Befremden nicht den winzigsten Fettfleck aufwies. Nicht einmal ein paar Ketchupspritzer …
Argerlich wandte sie ihren Blick wieder dem Autopsietisch zu, wo Dr. Gutzkows frisch behandschuhte Hände derweil Nikolas Hrubeschs Kopf zur Seite gedreht hatten, sodass eine verkrustete Wunde unterhalb des Haaransatzes sichtbar wurde.
»Gestorben ist der Junge durch einen Schuss in die Schläfe«,
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