Querschläger
erklärte die Pathologin. »Das Projektil hat den linken Schläfenlappen und das Vorderhirn durchschlagen, wo es ziemliche Verwüstungen angerichtet hat, bevor es schließlich in der Schädeldecke stecken blieb.« Sie zeigte auf ein paar Röntgenaufnahmen des Kopfes, die an einem der zahlreichen Lichtkästen an der Wand klemmten und auf denen selbst aus der Entfernung deutlich der Schatten eines Projektils zu erkennen war. »Der Tod ist umgehend eingetreten.«
Winnie Heller trat noch einen Schritt näher an den Tisch heran und betrachtete Nikolas Hrubeschs Gesicht. Es sah in etwa so aus wie auf dem Foto, das sie in der Kommandozentrale gesehen hatten. Aber hier, im grellen Licht der Operationslampen, wirkte der Amokläufer um ein Vielfaches jünger. Er ist beinahe noch ein Kind gewesen, dachte sie verwundert. Ein Kind, das heute Morgen wie gewohnt zur Schule gegangen ist und dabei elf Menschen erschossen hat. Laut sagte sie: »Haben Sie irgendwelche Hinweise gefunden, dass der Junge sich gegen einen möglichen Angreifer zur Wehr gesetzt haben könnte?«
»Nein, keine. Übrigens auch keine sonstigen Hämatome oder Fleischwunden.« Dr. Gutzkows aufmerksamer Blick blieb an ihrer verletzten Wange hängen, doch zu Winnie Hellers Erleichterung stellte sie keine Fragen. »Alles vollkommen unauffällig.«
»Wissen wir eigentlich, ob der Junge Linkshänder war?«, fragte Verhoeven, während seine Augen noch immer auf den schwarz verfärbten Wundrändern an Nikolas Hrubeschs Schläfe ruhten.
Winnie Heller überlegte kurz. »Ich glaube nicht, dass bei der Besprechung etwas in dieser Richtung erwähnt wurde.«
»Dann sollten wir das so schnell wie möglich klären.«
Sie nickte und machte sich eine entsprechende Notiz, während Dr. Gutzkow nach der Hand des Toten griff und sie gegen das Licht hob, wo sie sie eingehend betrachtete. Durch die blütenweiße Haut schimmerte ein Geflecht dunkler Adern hindurch. »Ich will Ihren Ermittlungen auf keinen Fall vorgreifen«, sagte sie. »Aber ich an Ihrer Stelle würde durchaus davon ausgehen, dass der Junge Linkshänder gewesen ist.« Sie hob Nikolas Hrubeschs Hand noch ein Stück höher. »Sehen Sie diese Hornhaut? Hier am Nagelbett des Mittelfingers?«
Die beiden Kommissare bejahten.
»So etwas findet man häufig bei Linkshändern, deren Eltern nicht ausreichend darauf geachtet haben, dass ihre Söhne oder Töchter den Stift richtig halten«, erklärte die Pathologin. »Die Tatsache, dass die Hornhaut bei Ihrem Attentäter recht ausgeprägt ist, deutet darauf hin, dass der Junge ziemlich viel mit der Hand geschrieben hat.« Sie runzelte ungläubig die Stirn, als halte sie es schon angesichts dessen, was Nikolas Hrubesch früher an diesem Tag getan hatte, für vollkommen absurd, dass er überhaupt geschrieben hatte. Noch dazu mit der Hand.
»Und ich dachte immer, die Jugend von heute hätte eher Schwielen an den Finger kuppen«, bemerkte Verhoeven mit einem müden Lächeln. »Vom ständigen Simsen oder durch diese fürchterlichen Computerspiele.«
»Ick weeß, wat Se meinen«, nickte Dr. Gutzkow, deren Berliner Herkunft sich plötzlich auch wieder sprachlich bemerkbar machte. Winnie Heller hatte bislang noch nicht herausgefunden, nach welchen Kriterien sich die Gerichtsmedizinerin ihres Dialekts bediente. Ob sie ihn überhaupt bewusst einsetzte oder nur einfach hin und wieder nachlässig wurde. »Mein Neffe spielt dieset Zeug von morgens bis abends«, erklärte sie jetzt. »Und immer geht’s dabei bloß um irgendwelche stumpfsinnigen Ballereien. Ist erst vierzehn, der Bengel, aber ick sage Ihnen, der hat jetzt schon beide Daumen kaputt.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf und besah sich dann Nikolas Hrubeschs linke Hand noch einmal genauer, während Winnie Heller verblüfft zur Kenntnis nahm, dass die spröde Dr. Gutzkow tatsächlich so etwas wie eine Familie hatte. Einen Neffen. Ein Umfeld. »Na, wie dem auch sei, Ihr Amokläufer hat jedenfalls Hornhaut an der Schreibstelle. Und nur dort«, verkündete die Pathologin, indem sie Nikolas Hrubeschs Hand auf den Autopsietisch zurücklegte wie einen Geschäftsvorgang, den man getrost als abgeschlossen betrachten konnte. Dann angelte sie mit ihren Latexfingern in der Tasche ihres Kittels, wo ihr Piepser zu summen begonnen hatte. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, murmelte sie, indem sie das Gerät wieder in ihre Kitteltasche zurückschob. »Da drüben auf dem Tisch steht frischer Kaffee. Grauenhaftes Zeug,
Weitere Kostenlose Bücher