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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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gepflanzt worden.
    Wenn man nun über die Holborn in die Stadt kam, sah man, sobald man sich unter dem Fallgatter hindurchduckte und den überwölbten Durchgang unterhalb von Newgate betrat, zur Rechten eine Tür, die zu einer Pförtnerloge führte, an der neue Häftlinge ihre Ketten vernietet bekamen. Ein paar Ellen weiter trat man wieder unter dem Kastell heraus auf eine nicht überdachte Fläche, die zu der Straße gehörte, die ab hier Newgate Street hieß. Rechts sah man ein düsteres altes Gebäude, das sich zu einer Höhe von drei oder vier Stockwerken erhob. Es hatte nur ein paar Fenster, und die waren vergittert. Das Gebäude war von dem Turm-Kastell-Gewölbe-Bauwerk getrennt; es hieß, früher habe es Reisenden, die über die Holborn in die Stadt kamen, als Schänke gedient. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hatte das Gefängnis sich jedoch die Newgate Street entlang ausgebreitet wie Brand in einem Oberschenkel und mehrere solcher Häuser mit Beschlag belegt. Die meisten Eingänge, die früher müde Reisende willkommen geheißen hatten, waren zugemauert worden. Nur einer war noch erhalten, an der Nahtstelle zwischen dem Kastell und den angrenzenden ehemaligen Schänken. Hier konnte der Besucher kurz nach rechts in den Gigger schauen oder, wenn er eine Kerze dabeihatte (denn es wurde sofort dunkel), einen Abstecher die Treppe hinauf oder hinunter in irgendeine Zelle, einen Kerker oder ein Verlies machen. Alles hing davon ab, welche Art von Schurken er besuchen wollte.
    Bei ihrem ersten Besuch hatten Jack und Bob nicht daran gedacht, eine Kerze mitzubringen, oder Geld, um eine zu kaufen, und waren die Treppe hinunter in einen Raum mit einem Steinfußboden gestolpert, der beim Gehen unter ihren Füßen ein knackendes Geräusch machte. Hier konnte man die Luft kaum einatmen, und so hatten sie nach wenigen Minuten blinder Panik ihren Weg hinausgefunden und waren auf die Newgate Street geflohen. Dort hatte Jack gemerkt, dass seine Füße blutig waren, und angenommen, er müsse auf Glasscherben getreten sein. Bob hatte denselben Eindruck. Doch im Gegensatz zu Jack trug Bob Schuhe, sodass das Blut nicht von ihm selbst stammen konnte. Bei sorgfältiger Untersuchung der Sohlen dieser Schuhe fanden sie des Rätsels Lösung: Das Blut war nicht über die Sohlen geschmiert, sondern darauf getupft, eine Schlachtlinie kleiner Sprengungen. Im Zentrum jeder Sprengung befand sich ein kleiner fleischiger grauer Kanal: die leere Hülle einer voll gesogenen Laus, die Bob zertreten hatte. Das erklärte das seltsam knackende Geräusch, dass sie gehört hatten, während sie in diesem Raum umhergingen. Wie sie bald erfuhren, nannte man ihn das Steinloch, und er galt als eins der erbärmlichsten und schlimmsten Kerkerlöcher des Gefängnisses, in der nur gewöhnliche Verbrecher einsaßen – wie der verstorbene John Cole -, die überhaupt kein Geld hatten. Jack und Bob kehrten nie wieder dorthin zurück.
    Im Verlauf mehrerer weiterer Abstecher in das Gefängnis lernten sie seine verschiedenen anderen Räume kennen: die Henkerskammer des faszinierenden Jack Ketch, das so genannte Arschfickerloch (das sie mieden), die Kapelle (gleichermaßen), den Kelterhof, wo die reichsten Häftlinge bei Port und Bordeaux mit ihren Perücke tragenden Besuchern plauderten, und die Taverne Zum Schwarzen Hund, wo die Kellermeister – Elitehäftlinge, die einen lebhaften Handel mit Kerzen und Schnaps trieben – jedem Häftling mit ein paar Münzen in der Tasche eine gewisse Gastfreundschaft erwiesen. Hier kam man sich vor wie in jedem anderen Wirtshaus in England, außer dass jeder Ketten trug.
    Es gab, mit anderen Worten, an Ort und Stelle jede Menge nette Dinge zu entdecken, die man sich später wieder ins Gedächtnis rufen konnte. Doch diese mühsamen Reisen von der Isle of Dogs nach Newgate machten sie nicht aus rein touristischen Zwecken. Es war ein Geschäftsvorhaben. Sie suchten ihren Markt. Und fanden ihn schließlich auch. Denn in dem Kastell selbst, auf der Nordseite der Straße, befand sich im Kellergeschoss des Turms ein geräumiger Kerker, den man das Verurteiltenloch nannte.
    Hier war Timing alles. Hinrichtungen fanden nur achtmal im Jahr statt. Erst ein oder zwei Wochen davor wurden Häftlinge zum Tod durch den Strang verurteilt. Deshalb waren die meiste Zeit überhaupt keine Verurteilten im Verurteiltenloch. Stattdessen wurde es provisorisch als Haftzelle für Festgenommene jeglicher Couleur benutzt, die zur Pförtnerloge auf der

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