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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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in einem Tal befanden, dem schönsten goldenen Tal, das Jack je gesehen hatte, von den ersten Apriltrieben über und über hellgrün und immer noch dicht mit Heuschobern übersät, obwohl das Vieh den ganzen Winter über davon gezehrt hatte. Breite Berge stiegen sanft, aber stetig aus diesem Tal auf und entwickelten sich mit der Zeit zu kälteren und gebirgigeren Silhouetten – von Riesen gebaute Rampen, die aufwärts zu geheimnisvollen Gipfeln führten. Die höchsten Kammlinien wirkten durch schwarze Umrisse, zumeist Bäume, zerklüftet; aber die Sachsen hatten nicht lange gefackelt und Wachttürme auf diese Höhen gebaut, die die überwältigendsten Aussichten boten. Jack fragte sich unwillkürlich, worauf sie wohl alle warteten. Oder vielleicht entzündeten sie nachts Feuer darin, um sonderbare Informationen über die Köpfe schlafender Bauern hinweg zu verschicken. Sie kamen an einem ruhigen See vorbei, in den etwas, was einmal ein Schloss aus braunem Stein gewesen war, hineinzustürzen schien; Wind kam auf und überzog das Wasser mit einer Gänsehaut, die das Spiegelbild zerstörte.
    Die meiste Zeit saßen Eliza und der Doktor zusammen in der Kutsche, sie damit beschäftigt, ihre Kleider entsprechend seiner Auffassung von der neuesten Mode zu ändern, und er, Briefe zu schreiben oder Schelmenromane zu lesen.Wie es schien, plante Sophies Tochter, Sophie Charlotte, im Spätjahr den Kurfürsten von Brandenburg zu ehelichen, und die Brautausstattung wurde gerade direkt aus Paris importiert, und das gab ihnen Gelegenheit, tagelang über Kleider zu reden. Manchmal, wenn das Wetter schön war, saß Eliza oben auf dem Kutschbock und gab den Fuhrleuten einen Grund, noch einen Tag am Leben zu bleiben. Manchmal gönnte Jack Türk eine Pause, indem er neben ihm herlief oder in oder auf der Kutsche saß.
    Der Doktor war immer dabei, irgendetwas zu tun – fantastische Maschinen zu entwerfen, Briefe zu schreiben, Pyramiden von Nullen und Einsen auszukratzen und sie nach irgendeinem System ausgeklügelter Regeln neu zu ordnen.
    »Was macht Ihr da, Doc?«, fragte Jack einmal, um freundlich zu sein.
    »Verbesserungen an meiner Theorie der Materie«, erwiderte der Doktor distanziert und sagte die nächsten drei Stunden nichts mehr. Dann verkündete er dem Kutscher, er müsse pissen.
    Jack versuchte, stattdessen mit Eliza zu reden. Seit der Unterhaltung in dem Gasthaus war sie ziemlich verdrossen gewesen. »Wie kommt es, dass du intime Prozeduren an einem Ende von mir durchführst, das andere Ende aber nicht küssen willst?«, fragte er eines Abends, als sie seine Zärtlichkeiten mit Augenrollen quittierte.
    »Ich verliere Blut – den Körpersaft der Leidenschaft – was erwartest du da?«
    »Meinst du das im normalen monatlichen Sinne oder -«
    »Diesen Monat mehr als gewöhnlich – und im Übrigen küsse ich nur Leute, denen ich etwas bedeute.«
    »Aha, und warum glaubst du, dass das nicht der Fall ist?«
    »Du weißt fast nichts über mich. Deshalb entspringt jedes liebevolle Gefühl, das du vielleicht hast, ausschließlich der Lust.«
    »Ach, und wessen Schuld ist das? Ich habe dich schon vor Monaten gebeten, mir zu erzählen, wie du von der Barbarei nach Wien gekommen bist.«
    »Hast du? An so etwas erinnere ich mich nicht.«
    »Tja, vielleicht ist’s ja auch die Französiche Krankheit, die sich an meinem Gehirn zu schaffen macht, aber ich erinnere mich ganz genau – du hast ein paar Tage gründlich darüber nachgedacht, kaum gesprochen und dann gesagt: ›Darüber möchte ich nicht reden.‹«
    »In der letzten Zeit hast du mich aber nicht gefragt.«
    »Eliza, wie bist du von der Barbarei nach Wien gekommen?«
    »Manche Teile der Geschichte sind zu traurig, als dass ich sie erzählen könnte, andere zu langweilig anzuhören – es reicht wohl, wenn ich sage, dass, als ich ein Alter erreichte, das ein geiler Maure als Erwachsenenalter betrachtet, meine Beziehung zu meiner Mutter in ihren Augen dieselbe geworden war wie die, die zwischen einer Dividende und einer Aktiengesellschaft besteht – ich war ein neues Stück Wohlstand, das aus der normalen Funktion des alten hervorgegangen war. Ich wurde flüssig gemacht.«
    »Was?«
    »Einem Wesir in Konstantinopel als Teil eines Geschäfts angeboten, nicht anders als bei den Geschäften, von denen die Stadt Leipzig lebt – du siehst, auch ein Mensch kann in ein paar Tropfen Quecksilber verwandelt werden und sich mit dem geheimnisvollen internationalen Fluss dieser Substanz

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