Quicksilver
Eliza, die darauf nicht gefasst war, fiel herunter und landete unverletzt in weichem Sand. Als das Pferd wieder auf allen vieren stand, gab der Mann mit dem Umhang ihm einen wiederhallenden Klaps auf die Kruppe, worauf es in Richtung seines Stalls davongaloppierte.
Dieser Mann wandte Eliza eine Weile den Rücken zu und blickte dem fortlaufenden Pferd nach, dann schaute er zum Dünenkamm und zuletzt die Küste entlang zu diesem Wachturm in der Ferne, um zu sehen, ob irgendjemand den Hinterhalt beobachtet hatte. Doch die einzigen Zeugen waren Krähen, die aufflatterten und kreischten, als das Pferd durch ihre Verteidigungslinien raste.
Eliza hatte allen Grund anzunehmen, dass irgendetwas Übles sie erwartete. Sie hatte diesen Burschen kaum aus den Augenwinkeln kommen sehen, aber seine Bewegungen waren energisch und kraftvoll gewesen – die eines Mannes, der körperlichen Einsatz gewohnt war, ohne die zur Schau getragene Anmut eines Edelmanns. Dieser Mann hatte nie Unterricht im Tanzen und Fechten genommen. Er bewegte sich wie ein Janitschar – ein Soldat, korrigierte sie sich selbst. Und das war eine ziemlich schlechte Neuigkeit. Die Morde, Räubereien und Vergewaltigungen, die in Europa verübt wurden, waren zu einem guten Teil das Werk von Soldaten, die arbeitslos gemacht worden waren, und gerade jetzt gab es in Holland Tausende davon.
Gemäß den Bestimmungen eines alten Vertrags zwischen England und Holland waren sechs Regimenter aus englischen und schottischen Truppen lange Zeit auf holländischem Boden stationiert gewesen, als Schutz vor einer Invasion aus Frankreich (oder, viel weniger plausibel, den Spanischen Niederlanden). Ein paar Monate zuvor, als der Herzog von Monmouth nach England gesegelt war und seinen Aufstand inszeniert hatte, hatte sein vorgesehenes Opfer, König James II., Nachricht aus London gegeben, dass diese sechs Regimenter dringend zu Hause gebraucht würden. Wilhelm von Oranien war – obwohl seine Sympathien eher bei Monmouth als beim König lagen – der Bitte, ohne zu zögern, nachgekommen und hatte die Regimenter losgeschickt. Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft war der Aufstand bereits niedergeschlagen gewesen, und es hatte für sie nichts mehr zu tun gegeben. Der König hatte es nicht eilig gehabt, sie zurückzuschicken, denn er traute seinem Schwiegersohn (Wilhelm von Oranien) nicht und argwöhnte, diese sechs Regimenter könnten eines Tages als Spitze einer holländischen Invasion wiederkommen. Stattdessen hätte er sie gerne in Frankreich stationiert. Doch König Ludwig – der selbst jede Menge Regimenter besaß – hatte sie als unnötige Ausgabe betrachtet, und Wilhelm hatte auf der Einhaltung des Vertrages bestanden. Also waren die sechs Regimenter nach Holland zurückgekommen.
Bald darauf waren sie aufgelöst worden. Deshalb wimmelte es jetzt in den ländlichen Gegenden Hollands von unbezahlten und führungslosen ausländischen Soldaten. Eliza nahm an, dass dieser einer von ihnen war; und da er sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihr Pferd zu stehlen, musste er andere Absichten haben.
Sie rollte auf ihre Ellbogen und Knie und keuchte, als wäre sie völlig außer Atem. Ein Arm hielt ihren Kopf, den anderen hatte sie auf ihren Unterleib gepresst. Sie trug ein langes Cape, das sich wie ein Zelt über sie gebreitet hatte. Sie stützte die Stirn auf ihrem Handgelenk ab und blickte in das verborgene Innere dieses Zeltes, wo ihre rechte Hand sich in den feuchten Falten ihrer Taillenschärpe zu schaffen machte.
Eins der interessanten Dinge, die sie im Topkapi-Palast aufgeschnappt hatte, war, dass die am meisten gefürchteten Männer im Osmanischen Reich nicht die Janitscharen mit ihren mächtigen Krummsäbeln und Musketen waren, sondern die hashishin : ausgebildete Mörder, die keine andere Waffe trugen als einen kleinen im Hosenbund verborgenen Dolch. Eliza besaß nicht die Fertigkeiten eines hashishin , aber sie erkannte eine gute Idee auf den ersten Blick und war nie ohne genau diese Art von Waffe anzutreffen. Sie jetzt zu zücken, wäre allerdings ein Fehler gewesen. Sie versicherte sich nur, dass sie griffbereit war.
Dann hob sie den Kopf, schob sich in eine kniende Position und schaute ihren Angreifer an. Genau in dem Moment drehte er sich zu ihr um und warf seine Kapuze zurück, unter der das Gesicht von Jack Shaftoe zum Vorschein kam.
Eine ganze Zeit lang war Eliza wie erstarrt.
Da Jack mittlerweile höchstwahrscheinlich tot war, hätte die Vermutung nahe gelegen, dass
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