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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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erklären. Ich selbst kann mich noch genau an den Moment erinnern, wo ich von dieser Denkweise verführt wurde: Ich war vierzehn und ging im Rosental nahe Leipzig spazieren, vorgeblich, um den Blütenduft zu riechen, in Wirklichkeit aber, um eine Art inneren geistigen Widerstreit zwischen den alten Methoden der Scholastiker und der mechanistischen Philosophie von Descartes weiterzuverfolgen. Wie Ihr wisst, habe ich mich für Letztere entschieden! Und ich habe seither nicht aufgehört, Mathematik zu studieren.
Descartes selbst hat studiert, wie Kugeln sich bewegen und kollidieren, wie beim Hinabrollen in Rinnen ihre Geschwindigkeit zunimmt et cetera , und er hat alle diese Daten mittels einer Theorie zu erklären versucht, die ihrem Wesen nach rein geometrisch war. Das Ergebnis seiner Geistesarbeit war klassisch französisch, insofern es zwar nicht mit der Wirklichkeit in Einklang stand, aber sehr schön und logisch kohärent war. Seither haben unsere Freunde Huygens und Wren noch mehr Mühe für das gleiche Ziel aufgewendet. Aber ich muss Euch wohl kaum sagen, dass es Newton ist, der das Reich der Wahrheiten, welche geometrischer Natur sind, weit über die anderen hinaus gewaltig ausgedehnt hat. Ich glaube wahrhaftig, Euklid und Eratosthenes würden sich, könnte man sie zum Leben erwecken, zu seinen Füßen niederwerfen und ihn (Heiden, die sie waren) wie einen Gott verehren. Denn ihre Geometrie behandelte vorwiegend schlichte abstrakte Formen, Linien im Sand, während Newtons Geometrie die Gesetze aufstellt, welche die Planeten bestimmen.
Ich habe das Exemplar der Principia Mathematica gelesen, das Ihr mir freundlicherweise geschickt habt, und werde mich hüten, mir einzubilden, ich könnte in des Verfassers Beweisen irgendwelche Fehler finden oder seine Arbeit auf irgendein Reich ausdehnen, das noch nicht erobert worden wäre. Es macht den Eindruck von etwas Abgeschlossenem und Vollendetem. Es gleicht einer Kuppel – wäre es nicht vollständig, hätte es keinen Bestand, und weil es vollständig ist und Bestand hat, ist es sinnlos, ihm etwas hinzufügen zu wollen.
Und doch zeigt gerade seine Vollendung an, dass es noch einiges zu tun gibt. Ich glaube, dass das große Gebäude der Principia Mathematica nahezu alle geometrischen Wahrheiten einschließt, die sich irgend über die Welt niederschreiben lassen. Aber jede Kuppel, und sei sie noch so groß, hat ein Inneres und ein Äußeres. Zwar schließt Newtons Kuppel alle geometrischen Wahrheiten ein, doch die anders gearteten schließt sie aus:Wahrheiten, die auf das Prinzip des Besten und auf finale Ursachen zurückgehen. Wenn Newton auf eine solche Wahrheit – wie etwa das Gesetz des inversen Quadrats der Schwerkraft – trifft, erwägt er nicht einmal, sie zu verstehen, sondern sagt stattdessen, dass die Welt einfach so sei, weil Gott sie so gemacht habe. Für eine solche Denkweise liegen alle so gearteten Wahrheiten außerhalb des Reichs der Naturphilosophie und gehören einem Reich an, dem man sich nach Newtons Dafürhalten am besten durch das Studium der Alchimie nähert.
Ich will Euch sagen, warum Newton Unrecht hat.
Ich habe versucht, aus Descartes’ geometrischer Theorie der Kollisionen irgendetwas Nützliches herauszuziehen, und habe festgestellt, dass sie ohne jeden Wert ist.
Descartes behauptet, dass zwei Körper, wenn sie zusammenstoßen, nach dem Zusammenstoß die gleiche Bewegungsgröße wie davor haben. Warum glaubt er das? Aufgrund empirischer Beobachtungen? Nein, denn er hat offensichtlich keine angestellt. Und wenn, hat er nur das gesehen, was er sehen wollte. Er glaubt es, weil er schon vorher beschlossen hat, dass seine Theorie geometrisch sein muss, und die Geometrie ist eine strenge Disziplin – es gibt nur bestimmte Größen, die ein Geometer messen und in seine Gleichung schreiben darf. Zu deren wichtigsten zählt die Ausdehnung, ein hochtrabender Begriff für »alles, was sich mit einem Lineal messen lässt«. Descartes und die meisten anderen lassen auch noch die Zeit zu, weil man die Zeit mit einem Pendel und das Pendel mit einem Lineal messen kann. Die Entfernung, die ein Körper zurücklegt (und die man mit einem Lineal messen kann), geteilt durch die Zeit, die er dafür braucht (und die man mit einem Pendel messen kann, das man mit einem Lineal messen kann), ergibt die Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit findet Eingang in Descartes’ Berechnung der Bewegungsgröße – je mehr Geschwindigkeit, desto mehr Bewegung.
So weit, so gut,

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