Quicksilver
und hatte als Grundlage für meinen Bericht nichts anderes als das Hörensagen eines Landstreichers sowie eine Überzeugung in mir selbst, dass ich die Mentalität des Königs verstanden hatte. Und selbst das konnte sich in ein paar Stunden tautropfengleich auflösen, wie die Ängste der Nacht es am Morgen so oft tun.
Ich war selbst drauf und dran, eine Landstreicherin zu werden und mich in östlicher Richtung auf den Weg zu machen, als, unmittelbar vor der Morgenmesse, eine schmutzige, verstaubte Kutsche vor dem Kloster vorfuhr und ein Herr an die Tür klopfte und unter dem falschen Namen, den ich angenommen hatte, nach mir fragte.
Dieser Herr und ich waren unterwegs, sobald sein Gespann gefüttert und getränkt war. Er ist Dr. Ernst von Pfung, ein leidgeprüfter Privatgelehrter aus Heidelberg. Als er noch ein Junge war, wurde seine Heimat von den Armeen des Kaisers besetzt und verwüstet; am Ende des Dreißigjährigen Krieges, als die Pfalz in der Friedensregelung der Winterkönigin übertragen wurde, half seine Familie ihr, ihren königlichen Hofstaat in dem, was vom Heidelberger Schloss noch übrig war, einzurichten. Deshalb kennt er Sophie und ihre Geschwister schon lange. Seine ganze Ausbildung einschließlich eines Doktors der Jurisprudenz bekam er in Heidelberg. Er diente Karl Ludwig [dem Bruder von Sophie und Liselottes Vater], während er Kurfürst der Pfalz war, als Berater und versuchte später, einen gewissen stabilisierenden Einfluss auf Liselottes älteren Bruder Karl auszuüben, als der die Nachfolge auf dem kurpfälzischen Thron antrat. Doch dieser Karl war verrückt und hatte nichts anderes im Sinn als Scheinbelagerungen seiner Rheinschlösser, bei denen er Abschaum wie Jack als »Soldaten« einsetzte. Bei einer davon bekam er Fieber und starb, was den Thronfolgestreit heraufbeschwor, aus dem der König von Frankreich jetzt Nutzen zu ziehen hofft.
Dr. von Pfung, dessen früheste und schlimmste Erinnerungen die an katholische Armeen sind, die brandschatzend, vergewaltigend und plündernd durch seine Heimat ziehen, ist außer sich vor Sorge, dass genau dasselbe in Kürze wieder passieren wird, diesmal mit französischen statt kaiserlichen Truppen. Die letzten Tage haben nicht eben zu seiner Beruhigung beigetragen.
Zwischen Heidelberg und dem Herzogtum Luxemburg bildet das Heilige Römische Reich eine hundert Meilen breite Ausbuchtung, die in südlicher Richtung fast bis zur Mosel nach Frankreich hineinragt. Dieses Gebiet heißt Saarland, und als unbedeutender Adliger des Reiches ist Dr. von Pfung gewohnt, es frei und sicher durchqueren zu können. Näher zu Lothringen hin ist dieses Gebiet in kleine Fürstentümer zerstückelt. Dr. von Pfung hatte vorgehabt, sich zwischen ihnen hindurchzuwinden und so sicher bis nach Lothringen durchzukommen, das genau genommen ein Teil des Reiches ist. Eine kurze Durchquerung Lothringens hätte ihn sehr nah bei St-Dizier über die französische Grenze gebracht.
Zum Glück besitzt Dr. von Pfung die Klugheit und weise Voraussicht, die man von einem Mann seiner Reife und Bildung erwartet. Er war nicht einfach davon ausgegangen, dass sein Plan funktionieren würde, sondern hatte ein paar Tage zuvor Reiter ausgeschickt, um das Territorium auszukundschaften. Nachdem sie nicht zurückgekehrt waren, machte er sich dennoch, das Beste hoffend, auf den Weg; doch schon nach sehr kurzer Zeit war ihm einer von ihnen mit düsteren Neuigkeiten auf der Straße entgegengekommen. Gewisse Hindernisse waren ausgemacht worden, die so komplex waren, dass Dr. von Pfung es ablehnte, sie mir zu erläutern. Er hatte eine Kehrtwendung angeordnet und war auf dem östlichen Rheinufer in südlicher Richtung bis nach Straßburg geritten, wo er ins Elsaß hinübergewechselt war und sich von dort aus, so schnell er konnte, weiter durchgeschlagen hatte. Als Adliger ist er berechtigt, Waffen zu tragen, und hat nicht lange gefackelt, sich dieses Recht zunutze zu machen, denn zusätzlich zu dem Rapier an seiner Hüfte hat er noch ein Paar Pistolen und eine Muskete in der Kutsche. Wir werden von zwei Vorreitern begleitet: junge Herren, die genauso bewaffnet sind. An jedem Gasthaus und jedem Flussübergang mussten sie sich durch Poltern und Prahlen ihren Weg bahnen, und die Anspannung zeigt sich in Dr. von Pfungs Gesicht; nachdem wir die Umgebung von St-Dizier verlassen hatten, entschuldigte er sich in aller Höflichkeit, zog seine Perücke von einer grau umrandeten Platte, lehnte sich neben einem
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