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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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offenen Fenster an und ließ seine Augen eine Viertelstunde lang ausruhen.
    Die Reise hat dazu geführt, dass er viel vermutet, aber nichts Genaues weiß, was ihn in dieselbe missliche Lage versetzt, in der ich mich befinde. Als er sich erholt hat, mache ich ihm einen Vorschlag: »Ich hoffe, Ihr findet mich nicht dreist, Doktor, aber mir scheint, dass die Informationen, die wir in den nächsten Tagen zu sammeln vermögen oder nicht, weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen werden. Ihr und ich, wir haben die ganze List und Klugheit angewandt, die wir aufzubieten hatten, und dennoch das eigentliche Problem nur am Rande gestreift. Könnte es sein, dass wir jetzt aufhören müssen, uns auf Spitzfindigkeiten zu konzentrieren, und stattdessen allen Mut zusammennehmen und um den Kern dieser Sache kämpfen?«
    Im Gegensatz zu dem, was ich erwartet hatte, wurden Dr. von Pfungs Gesichtszüge durch diese Worte entspannt und weich. Er lächelte, was eine Reihe fein geformter Zähne enthüllte, und nickte einmal in einer Art Verbeugung. »Ich hatte bereits beschlossen, mein Leben dafür einzusetzen«, gab er zu. »Falls ich Euch nervös oder zerstreut vorgekommen bin, dann liegt das daran, dass ich mir noch nicht im Klaren war, ob ich auch das Eure riskieren darf. Und es bereitet mir immer noch Unbehagen, denn Ihr habt noch viel mehr Leben vor Euch als ich. Aber -«
    »Sagt nichts mehr, wir dürfen unsere Energien nicht mit solcherlei unnötigem Gerede vertun«, sagte ich. »Es ist beschlossen – wir werden würfeln. Was ist mit Euren Begleitern?«
    »Diese jungen Männer sind Offiziere eines Kavallerieregiments – vermutlich die ersten, die bei Louvois’ Invasion niedergemäht werden. Sie sind Ehrenmänner.«
    »Euer Kutscher?«
    »Er hat zeit seines Lebens im Dienst meiner Familie gestanden und würde mir niemals erlauben, allein zu reisen oder zu sterben.«
    »Dann schlage ich vor, dass wir in Richtung Meuse aufbrechen, die zwei oder drei stramme Tagesritte östlich von hier auf der anderen Seite des Argonner Waldes liegen müsste.«
    Sofort klopfte Dr. von Pfung an die Decke und wies den Kutscher an, für den größten Teil des folgenden Tages die Sonne immer auf seiner Rechten zu behalten. Natürlich geriet der Kutscher so auf jene ostwärts verlaufenden Straßen, die ausgesprochen stark befahren zu sein schienen, und so folgten wir schließlich den tiefen Wagenspuren, die die schweren Ochsenkarren in den vorangegangenen Tagen im Boden hinterlassen hatten.
    Wir waren erst seit ein paar Stunden unterwegs, als wir einen ganzen Zug überholten, der sich eine lange Steigung zwischen den Flusstälern der Marne und der Ornain hinaufmühte. Indem er hier und da breitere Stellen in der Straße nutzte, konnte unser Kutscher diese Karren einen nach dem anderen überholen. Dr. Pfung und ich spähten durch die Kutschenfenster und konnten jetzt deutlich sehen, dass die Karren mit Masseln eines grauen Metalls beladen waren, das durchaus auch Eisen hätte sein können – aber da auf keinem von ihnen auch nur ein einziger Rostfleck war, mussten sie aus Blei sein. Ich hoffe, werter Leser, Ihr werdet mich nicht albern und mädchenhaft finden, wenn ich gestehe, dass ich erfreut und aufgeregt darüber war, meine Vermutungen bestätigt und meine Klugheit endlich bewiesen zu sehen. Ein flüchtiger Blick in Dr. von Pfungs Gesicht machte allerdings sämtliche derartigen Gefühle zunichte, denn er sah aus wie ein Mann, der mitten in der Nacht heimgekehrt ist und sieht, dass Flammen und Rauchschwaden aus den Fenstern seines Hauses dringen.
    An der Spitze des Zuges ritt ein französischer Kavallerieoffizier, der aussah, als wäre er soeben dazu verurteilt worden, hundert Jahre Dienst im Fegefeuer zu tun. Er machte keine Anstalten uns zu grüßen, und so ließen wir ihn und seine Kolonne schnell weit hinter uns. Unsere Hoffnung, die verlorene Zeit aufzuholen, wurde jedoch durch die Art des Geländes zerstört. Die Argonnen sind ein breiter Bergrücken, der, unmittelbar über unseren Weg, in Nord-Süd-Richtung verläuft, und an vielen Stellen fällt der Untergrund jäh in tiefe Flussbetten ab. Dort, wo das Gelände eben ist, ist es dicht bewaldet. Deshalb hat man keine andere Wahl, als den Straßen zu folgen und die verfügbaren Furten und Brücken zu benutzen, seien sie auch noch so verstopft und baufällig.
    Doch beim Anblick jenes armen jungen Offiziers war mir eine Idee gekommen. Ich bat Dr. von Pfung, die Augen zu schließen, und nahm ihm

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