Quicksilver
Frankreich vor den Deutschen, Holländern, Spaniern und anderen Feinden zu schützen. Angenommen, ich hatte Recht mit der Vermutung, dass die Fracht Blei war, dann bedeutete das, was man mir gerade berichtet hatte, dass es unten in Haguenau eingeschmolzen und zu Gewehr- und Kanonenkugeln verarbeitet wurde. Das würde den Bedarf an Feuerholz erklären. Aber wofür brauchten sie auch Bauholz? Ich vermutete, dass es zum Bau von Barken diente, die die Munition den Rhein hinunterbeförderten. Die Strömung würde sie dann in ein oder zwei Tagen flussabwärts in die Pfalz bringen.
Bestimmte Dinge, die mir bei Hofe aufgefallen waren, bekamen jetzt eine ganz neue Bedeutung. Der Chevalier de Lorraine – Herr über das Gebiet, das die Ochsenkarren auf dem Weg nach Haguenau passieren mussten – ist lange Zeit der dienstälteste von Monsieurs Liebhabern und der grausamste und unnachgiebigste von Madames Peinigern gewesen. Theoretisch ist er ein Vasall des Heiligen Römischen Kaisers, dem Lothringen immer noch tributpflichtig ist, aber praktisch ist er mittlerweile vollkommen von Frankreich umgeben – man kann Lothringen nicht betreten oder verlassen, ohne über Territorium zu reisen, das von Versailles aus regiert wird. Das erklärt, warum er sich die ganze Zeit am französischen Hof statt in Wien aufhält.
Es herrscht allgemein die Meinung, der Herzog von Orléans sei zum Verweichlichten und Passiven erzogen worden, damit er nie eine Bedrohung für den Thron seines Bruders darstellt. Man könnte annehmen, dass der Chevalier de Lorraine, der Monsieur regelmäßig penetriert und über seine Gefühle herrscht, damit eine wunde Stelle in der regierenden Dynastie Frankreichs ausgenutzt hätte. Auch das ist allgemeine Meinung bei Hofe. Doch jetzt sah ich es in einem anderen Licht. Man kann nicht penetrieren, ohne umfasst zu werden, und der Chevalier de Lorraine wird so von Monsieur umfasst, wie sein Territorium von Frankreich. Ludwig überfällt und dringt ein, sein Bruder verführt und umgibt, sie teilen einen gemeinsamen Willen, sie ergänzen einander wie das bei Brüdern sein soll. Ich sehe einen Homosexuellen, der eine Scheinehe eingeht und seine Frau für die Liebe eines Mannes verschmäht. Aber Ludwig sieht einen Bruder, der, angeblich um den Anspruch seiner Frau auf dieses Gebiet zu verteidigen, einen Scheinkrieg in der Pfalz führen wird, während er das Lehen seines Liebhabers als Heerstraße zum Transport von Material an die Front betrachtet.
Als diese drei – Monsieur, Madame und der Chevalier – vor ein paar Wochen kurzfristig nach St-Cloud geschickt wurden, nahm ich an, das läge daran, dass der König ihre Streitereien satt hatte. Jetzt begreife ich, dass der König in Metaphern denkt und dass er sie alle wie Tiere auf einem Hetzplatz zusammenstecken musste, um ihren Konflikt auf die Spitze zu treiben, bevor er seinen Feldzug begann. So wie die Römer glaubten, die häuslichen Streiterein zwischen Jupiter und Juno äußerten sich in Gewitterstürmen, wird das erbärmliche Dreieck von St-Cloud sich als Krieg in der Pfalz äußern. Ludwigs Reich, das jetzt noch in den Argonnen unterbrochen ist, wird sich über den Rhein hinüber und rheinabwärts bis nach Mannheim und Heidelberg ausdehnen, und wenn schließlich in St-Cloud der häusliche Friede wiederhergestellt ist, wird Frankreich zweihundert Meilen größer sein und die barrière de fer wird über ein verbranntes Gebiet führen, indem früher Deutsch sprechende Protestanten lebten.
All das kam blitzartig in meinem Kopf zusammen, aber dann lag ich, in Sorge darüber, was ich tun sollte, bis zum Morgengrauen wach. Wochen zuvor hatte ich mir selbst eine kleine Metapher ausgedacht, in der es um zwei Hunde namens Phobos und Deimos ging, und sie in der Hoffnung, die Spione des Prinzen von Oranien möchten sie lesen und ihre Botschaft verstehen, in einen Brief an d’Avaux gesteckt. Damals kam ich mir sehr schlau vor. Doch jetzt erschien mir meine Metapher, verglichen mit der von Ludwig, kindisch und albern. Schlimmer noch, ihre Botschaft war unklar – denn ihre einzige Aussage lautete, dass ich noch nicht sicher sein konnte, ob Louvois die Absicht hatte, nordwärts in die Holländische Republik vorzustoßen oder sich zurückzuziehen, in Richtung Osten zu wenden und sich dann über den Rhein zu stürzen. Jetzt hatte ich das sichere Gefühl, die Antwort zu wissen, und musste dem Prinzen von Oranien Nachricht geben. Aber ich steckte in einem Kloster in St-Dizier fest
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