Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
hoffe, er werde bald Gelegenheit haben, sie zu besuchen.
    Als sie den Brief aufriss, sprang die Wachsscheibe, die ihn versiegelte, ab und rollte quer über den Fußboden unter einen Stuhl. Während sie den Brief las, ging ich hinüber und hob sie auf. Das in das Siegelwachs gedrückte Wappen kannte ich zwar nicht, bestimmte Elemente davon waren mir jedoch aus meiner Zeit in Versailles vertraut – ich konnte erraten, dass er mit einer gewissen, für ihre militärischen Großtaten bekannten Familie aus der Gascogne verwandt war. Die Annahme schien berechtigt, dass er der Herr war, den ich in der Nacht zuvor am Kai gesehen hatte.
    TAGEBUCHEINTRAG 2. SEPTEMBER 1688
ANMERKUNG DES KRYPTOANALYTIKERS: Im Original enthält der nachstehende Abschnitt eine ganze Menge Details über die in St-Dizier von den chalands gelöschten Frachten und über die Wappen und Abzeichen von Personen, die die Gräfin dort beobachtete, was für den Prinzen von Oranien von größerem Interesse sein dürfte als für Eure Majestät. Ich habe sie hier weggelassen. - B.R.
    Drei langsam verstrichene Tage im Kloster von St-Dizier haben mir mehr als genug Zeit gegeben, den Rückstand an meiner Stickerei aufzuholen! Mit etwas Glück kommt heute Nacht mein Landstreicher mit Neuigkeiten zurück. Falls ich bis morgen nicht etwas aus der Pfalz gehört habe, bleibt mir kaum eine andere Wahl, als mich allein aufzumachen, obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich das bewerkstelligen soll.
    Wie auf dem chaland habe ich versucht, diese unproduktive Zeit so gut es ging zu nutzen. Tagsüber habe ich mich bemüht, mit Eloise, der Empfängerin des Briefes, ins Gespräch zu kommen. Das war schwierig, weil sie nicht sehr intelligent ist und wir nur wenige gemeinsame Interessen haben. Ich ließ verbreiten, ich sei vor kurzem in Versailles und St-Cloud gewesen. Mit der Zeit hörte auch sie davon und fing an, sich bei den Mahlzeiten neben mich zu setzen und zu fragen, ob ich diese oder jene Person dort kenne und was aus Soundso geworden sei. So habe ich schließlich erfahren, wer sie selbst und wer ihr gut gekleideter Cousin ist: der Chevalier d’Adour, der die letzten paar Jahre darauf verwandt hat, sich bei Marschall Louvois, dem Oberbefehlshaber des Königs, einzuschmeicheln. Er zeichnete sich in den jüngsten Massakern an Protestanten im Piemont aus und ist alles in allem einer, dem man eine Mission von solcher Tragweite anvertrauen könnte. Abends habe ich versucht, ein wachsames Auge auf das Hafenviertel zu haben. Einige weitere chalands sind dort nach derselben Manier wie der erste gelöscht worden.
    TAGEBUCHEINTRAG 5. SEPTEMBER 1688
    Plötzlich passierte so viel, dass ich mich ein paar Tage lang nicht um meine Stickerei kümmern konnte. Das hole ich jetzt in einer Kutsche auf einer holprigen Straße in den Argonnen nach. Diese Art zu schreiben hat für eine umherwandernde Spionin mehr Vorteile, als mir zunächst klar war. Es wäre mir unmöglich, hier mit Feder und Tinte zu schreiben, während eine Stickarbeit so eben zu schaffen ist.
    Um es gleich zu sagen, mein junger Landstreicher kam zurück und verdiente sich seine zehn Silberlinge, indem er mir mitteilte, dass die schweren Ochsenkarren mit der Fracht aus den chalands gen Osten unterwegs waren, aus Frankreich hinaus und nach Lothringen hinein, wobei sie Toul und Nancy auf Waldwegen umfuhren, um dann weiter östlich ins Elsass zu gelangen, das wieder Frankreich ist [während das Herzogtum Lothringen im Osten und Westen von Frankreich flankiert wird]. Mein Landstreicher hatte aus Zeitgründen umkehren und zurückkommen müssen, so dass er die Karren nicht bis an ihr Ziel hatte verfolgen können, aber es ist auch so offensichtlich, dass sie auf den Rhein zusteuern. Von einem Wanderer, den er unterwegs traf, erfuhr er, dass solche Karren aus mehr als einer Richtung auf die Festung Haguenau zufuhren, die in jüngster Zeit ein lauter und rauchverhangener Ort gewesen war. Der Mann war aus dieser Gegend geflohen, weil die Truppen sämtliche Müßiggänger, deren sie habhaft werden konnten, pressten und zum Arbeiten zwangen: Sie mussten Bäume schlagen – kleine für Brennholz und große für Bauholz. Sogar die Unterstände der Landstreicher wurden zerschlagen und verbrannt.
    Auf diese Nachricht hin konnte ich für den Rest der Nacht nicht schlafen. Wenn meine Erinnerung an die Landkarten mich nicht täuschte, liegt Haguenau an einem Zufluss des Rheins und gehört zu der barrière de fer , die Vauban baute, um

Weitere Kostenlose Bücher