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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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der Scheide ziehen und beginnen würde, Untertanen niederzumetzeln. Dann könnte Daniel seine Tat vielleicht noch dadurch krönen, dass er jemandem ein Trinkgefäß auf den Kopf schmetterte – oder noch besser, ein, zwei ehrenhafte Wunden davontragen. Das würde ihm eine allerdings nur einfache Gratisfahrt nach Frankreich bei Übernahme aller Kosten garantieren, und dort würde er wahrscheinlich mit einer Earlswürde belohnt werden, die er niemals würde wahrnehmen können, und dürfte den ganzen Tag an James’ Exilhof herumlungern.
    Diese Phantasie hielt nicht sehr lange an. Einer der Angreifer hatte in der Rocktasche Seiner Majestät etwas ertastet und zerrte es hervor: ein Kruzifix. Kurze Stille. Wer seine Sinne noch so weit beisammen hatte, dass er den Gegenstand sehen konnte, fühlte sich bemüßigt, ihm die schuldige Reverenz zu erweisen; entweder, weil es sich um ein Sinnbild der Passion Unseres Herrn handelte oder weil es vorwiegend aus Gold bestand. In der Atmosphäre des Wirtshauses, die in etwa die Masse und Konsistenz von Aspik besaß, schimmerte das Artefakt verlockend und wies sogar einen Glorienschein auf. Descartes hatte die Vorstellung eines Vakuums verabscheut und behauptet, das, was wir als leeren Raum wahrnähmen, sei in Wirklichkeit ein Plenum, ein Ozean voller dicht gedrängter, umherwirbelnder und gegeneinander prallender Teilchen, welche mit einem festen, dem Universum bei seiner Erschaffung vom Allmächtigen zugeteilten Vorrat an Bewegung Handel und Austausch trieben. Der Gedanke musste ihm in einer Schänke wie dieser gekommen sein; Daniel war sich nicht sicher, ob eine Pistolenkugel imstande wäre, von einem Ende des Raums zum anderen einen Tunnel durch diese Luft zu bohren.
    »Was ist denn das?«, wollte der Bursche, der das Kruzifix hochhielt, wissen.
    James II. wirkte plötzlich aufgebracht. »Na, ein Kruzifix!«
    Abermals verstrich ein Moment der Verständnislosigkeit. Daniel hatte den Gedanken, ein exilierter Earl in Versailles zu werden, vollständig fallen lassen und fühlte sich nun selbst auf ungute Weise pöbelhaft und schwer versucht, Seiner Majestät eine zu scheuern – und sei es nur um Drakes willen, der keinen Moment gezögert hätte.
    »Und wenn du kein verfluchter Jesuitenspion bist, warum trägst du dann dieses Götzenbild mit dir rum?«, wollte der Bursche mit den flinken Händen wissen und schwenkte das Kruzifix knapp außerhalb der Reichweite des Königs. »Hast du’s geklaut? Hast du diesen heiligen Gegenstand aus einer brennenden Kirche gestohlen, oder was?«
    Sie hatten keine Ahnung, um wen es sich handelte. Daraufhin wurde die Szene zum ersten Mal verständlich. Bis dahin hatte Daniel sich gefragt, wer hier eigentlich unter syphilitischen Halluzinationen litt!
    James hatte ganz London damit überrascht, dass er nach Mitternacht von Whitehall Palace weggaloppiert war. Irgendwer hatte ihn dabei beobachtet, wie er das Große Reichssiegel in die Themse schleuderte – eine für den Souverän nicht ganz alltägliche Handlungsweise -, und dann war er in östlicher Richtung in die Nacht davongeprescht, und seither hatte ihn kein Mensch von vornehmem oder adeligem Stand gesehen, bis Daniel auf der Suche nach einer Stärkung in diese Schänke getappt war.
    Gottlob hatte sich der Drang gelegt, hinüberzulaufen und dem König eins aufs Maul zu geben. Ein auf einer Bank an der Wand fläzender, halb komatöser Mann beäugte Daniel auf eine Weise, die nicht ganz wohlgefällig war. Wenn es hier als angemessen und schicklich galt, überlegte Daniel, einen gut gekleideten Fremden auf den bloßen Verdacht hin, dass er Jesuit war, zu verprügeln und auszurauben, dann könnten die Dinge auch für Daniel Waterhouse, den Puritaner, einen nicht ganz glücklichen Ausgang nehmen.
    Er trank seinen Krug zur Hälfte leer, dann drehte er sich mitten in der Schänke um, sodass sein Mantel aufklaffte und sein Degen sichtbar wurde. Das Vorhandensein der Waffe wurde, mit professionellem Interesse, von dem Schankwirt vermerkt, der sie nicht direkt ansah; er gehörte zu den Kerlen, die sich für alles ihres peripheren Sehvermögens bedienten. Gäbe man ihm ein Perspektiv, würde er es sich ans Ohr halten und genauso viel sehen wie Galilei. Sein Nasenbein war mindestens zweimal gebrochen, und er hatte eine Fraktur der linken Augenhöhle erlitten, wodurch sein Gesicht wie ein zwischen den Fingern einer sich ballenden Faust hervorquellendes Abbild aus Ton wirkte. Daniel sagte zu ihm: »Macht Euren

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