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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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einer festen Position, sodass ganz London vorbeikommen und sie sich gründlich ansehen konnte, um sie hinterher wiederzuerkennen. Das Brandmarken und Verstümmeln zeichnete sie für immer, sodass der Rest der Welt sie erkennen würde.
    Dies alles war Jahre vor Daniels Geburt geschehen, es spielte keine Rolle für ihn – so hatte Dad schon immer ausgesehen – und hatte natürlich auch für Drake nie eine Rolle gespielt. Binnen weniger Wochen machte er abermals die Landstraßen Englands unsicher und kaufte Tuch, das er später in die Niederlande schmuggelte. In einem Landgasthaus auf dem Weg nach St. Ives lernte er einen finsteren Burschen mit buschigen Augenbrauen kennen, der Oliver Cromwell hieß und unlängst seinen Glauben verloren und sich selbst am Ende gesehen hatte – jedenfalls bildete er sich das ein, bis er Drake zu Gesicht bekam und Gott fand. Aber das war eine andere Geschichte.
    Ziel aller Menschen, die in jenen Tagen Häuser hatten, war es, nur so viele Möbelstücke zu besitzen, wie man unbedingt zum Leben brauchte, diese aber so groß und schwer und dunkel wie nur irgend möglich zu gestalten. Dementsprechend aßen Daniel und Drake ihre Kartoffeln mit Hering an einem Tisch von der Größe und dem Gewicht einer mittelalterlichen Zugbrücke. Es gab keine anderen Möbel im Zimmer, obgleich die acht Fuß hohe Standuhr im angrenzenden Flur für so etwas wie eine unmittelbare Präsenz sorgte, bemerkbar an dem Hin-und-Her-Wuchten ihres kanonenkugelgroßen Pendels, welches das ganze Haus von einer Seite zur anderen schwanken ließ wie einen Betrunkenen, der einen kurzen Gang tut, ferner an dem deutlich vernehmbaren Knirschen ihres Räderwerks und dem wild lärmenden Gongen, das in Abständen, die verdächtig willkürlich wirkten, aus ihr hervorbrach und dafür sorgte, dass noch in mehreren Tausend Fuß Höhe Zugvogelschwärme miteinander kollidierten und auf neue Kurse einschwenkten. Der Staubbelag, der sich über ihre gotischen Zinnen zu schieben begann, ihr innerer Vorrat an Mäusedreck, die römischen Ziffern, die ihr Erbauer in die Rückseite eingeschnitzt hatte, und ihr völliges Unvermögen, die Zeit anzugeben, dies alles wies sie als ein Stück Technik der Vor-Huygens-Zeit aus. Ihr Gongen hätte Daniels Geduld auch dann auf eine harte Probe gestellt, wenn es präzise zur vollen, halben und viertel Stunde et cetera erfolgt wäre, denn es ließ ihn ausnahmslos jedes Mal erschrocken hochfahren. Dass sie keinerlei Informationen darüber vermittelte, wie viel Uhr es tatsächlich war, trieb Daniel dermaßen zur Weißglut, dass er begonnen hatte, sich der Phantasievorstellung hinzugeben, er stünde am Schnittpunkt zweier Flure und überreichte Drake jedes Mal, wenn dieser vorbeikam, eine Schmähschrift, in der er die alte Uhr denunzierte und forderte, dass ihr launenhaftes Pendel angehalten und dass sie durch ein neues Huygens-Modell ersetzt werde. Aber Drake hatte ihm bereits gesagt, er solle, was die Uhr anging, den Mund halten, deshalb konnte er nichts machen.
    Daniel hörte manchmal tagelang keine anderen Geräusche. Alle denkbaren Gesprächsthemen ließen sich in zwei Kategorien einteilen: erstens solche, die dazu führten, dass Drake eine Schimpfkanonade losließ, die Daniel schon so oft gehört hatte, dass er sie auswendig zitieren konnte, und zweitens solche, die tatsächlich zu Gesprächen im eigentlichen Sinne führen könnten. Daniel vermied Themen der ersten Kategorie. Sämtliche Themen der zweiten Kategorie waren bereits erschöpft. So konnte Daniel beispielsweise nicht fragen: »Wie ergeht es Praise-God in Boston?«, 6 weil er sich danach schon am ersten Tag erkundigt und Drake darauf geantwortet hatte; seither waren nur wenige Briefe gekommen, weil die Briefboten entweder tot waren oder so rasch wie möglich aus London flohen. Ab und zu trafen Privatkuriere mit Briefen ein, die größtenteils Drakes Geschäfte betrafen, manchmal aber auch an Daniel adressiert waren. Daraufhin kamen kurze Gespräche zustande, die (Schimpfkanonaden nicht mitgerechnet) bis zu einer halben Stunde dauern konnten, doch meistens hörte Daniel Tag für Tag nur die Glocken der Leicheneinsammler und ihre knarrenden Karren; die furchtbare Uhr; Kühe; Drake, wie er laut das Buch Daniel und die Offenbarung las oder auf dem Virginal spielte; und das Kratzen seiner eigenen Feder auf den Seiten seines Notizbuches, während er sich durch Euklid, Kopernikus, Galilei, Descartes und Huygens arbeitete. Tatsächlich lernte er eine

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