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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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und Diener wichen zurück und verschafften Isaac und Daniel so einen günstigen Aussichtspunkt, von dem aus sie bis zum Unterleib des Mannes hätten blicken können, wenn der Blick nicht von schwarzen Beulen straffen Fleisches verstellt worden wäre, die sich wie geschichtete Kanonenkugeln über die Innenseite der Oberschenkel zogen.
    Inzwischen hatte der Mann aufgehört, sich zu winden und zu schreien, denn er war tot. Daniel hatte Isaac am Arm ergriffen und zog ihn ziemlich kräftig zurück, doch Isaac fuhr fort, sich dem Befallenen zu nähern. Daniel blickte sich um und sah, dass sich plötzlich niemand mehr in Musketenschussweite befand – Pferde und Zelte waren verlassen, Lasten von Trägern, die sich mittlerweile schon auf halbem Wege nach Ely befanden, auf dem Boden verstreut worden.
    »Ich kann sehen, dass die Beulen größer werden, obwohl der Körper tot ist«, sagte Isaac. »Der zeugende Geist lebt fort – verwandelt das tote Fleisch in etwas anderes – so wie Maden aus Fleisch erzeugt werden und Silber unter Bergen wächst – warum bringt er einmal Tod und das andere Mal Leben?«
    Dass sie lebten, wurde dadurch belegt, dass Daniel seinen Freund irgendwann wegzog und es ihm gelang, ihn wieder flussaufwärts, Richtung Cambridge, in Marsch zu setzen. Aber Isaac war in Gedanken noch immer bei jenen satanischen Wundern, die sich am Unterleib des Toten gezeigt hatten. »Ich bewundere Monsieur Descartes’ Analysis, aber seiner Annahme, dass die Welt nichts anderes sei als Materieteilchen, die aufeinander treffen wie Münzen in einem Beutel, der geschüttelt wird, fehlt etwas. Wie kann sie erklären, dass die Materie imstande ist, sich zu Augen, Blättern und Salamandern anzuordnen, sich in andere Formen zu verwandeln? Dabei ist es nicht einfach so, dass die Materie sich nur auf gute Weise zusammenfügt – es handelt sich nicht etwa um eine fortwährende, wundersame Schöpfung -, denn der gleiche Vorgang, durch den unsere Leiber Speise und Trank in Fleisch und Blut umwandeln, kann auch dafür sorgen, dass sich ein Menschenleib binnen weniger Stunden in eine Ansammlung von Beulen verwandelt. Er mag ziellos erscheinen, aber er kann es nicht sein. Dass der eine krank wird und stirbt, während der andere gedeiht, sind Zeichen in der kryptischen Botschaft, welche die Philosophen zu enträtseln suchen.«
    »Sofern die Botschaft nicht schon vor langer Zeit niedergelegt wurde und in der Bibel steht, wo jeder sie deutlich lesen kann«, sagte Daniel.
    Fünfzig Jahre später erinnert er sich nur äußerst ungern daran, dass er je so geredet hat, aber er kann es nicht ändern.
    »Was meinst du damit?«
    »Das Jahr 1665 ist zur Hälfte vorüber – du weißt, welches Jahr als nächstes kommt. Ich muss nach London, Isaac. Die Pest ist nach England gekommen. Was wir heute gesehen haben, ist ein Vorbote des Weltuntergangs.«

An Bord der Minerva, vor der Küste von New England
    NOVEMBER 1713
    Daniel wird von einem Hahn auf dem Vorderdeck 4 geweckt, der in zunehmendem Maße überzeugt ist, dass er sich das Licht am Osthimmel nicht bloß einbildet. Leider liegt der Osthimmel heute Morgen auf der Backbordseite. Gestern lag er steuerbords. Die Minerva fährt nun schon fast vierzehn Tage an der Küste von New England auf und ab und versucht, einen Wind zu gewinnen, der sie ein für alle Mal ins tiefe Wasser oder, wie die Redensart lautet, »außerhalb der lotbaren Gründe« bringt. Sie sind wahrscheinlich nicht weiter als fünfzig Meilen von Boston entfernt.
    Er begibt sich hinunter zum Geschützdeck, einer engen Düsternis aus scharf riechender Luft. Als seine Augen sich angepasst haben, kann er die Kanonen erkennen: Man hat sie auf ihren niedrigen Lafetten allesamt parallel zu den Planken des Rumpfes gedreht, sie festgezurrt und die schweren Luken vor den Stückpforten geschlossen. Nun, da er den Horizont nicht sehen kann, muss er sich seiner Fußsohlen bedienen, um das Rollen und Stampfen des Schiffes zu spüren – würde er darauf warten, dass ihm sein Gleichgewichtssinn verrät, dass er fällt, wäre es jedes Mal zu spät. Er bewegt sich mit ganz kurzen, sorgfältig geplanten Schritten nach achtern und lässt dabei die Fingerspitzen an der Decke entlanggleiten, wo sie gegen die dort aufgereihten langen Ladestöcke und Bürsten zur Bedienung der Kanonen stoßen. Er gelangt an eine Tür und von da aus in eine Kajüte im Achterschiff, die sich über die gesamte Schiffsbreite erstreckt und eine Fensterfläche aufweist, die an

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