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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Geburt von Godfrey öfter, als ihm lieb war, Gelegenheit hatte, Weinen zu beobachten – ist da anderer Meinung. Laut zu weinen ist kindisch, insofern sich darin die Überzeugung des Weinenden widerspiegelt, dass jemand da ist, der es hört und herbeigelaufen kommt, um alles zum Guten zu wenden. In völliger Stille zu weinen, wie Daniel es an diesem Morgen tut, ist das Kennzeichen des reifen Leidenden, der keine derartigen tröstlichen Illusionen mehr hegt, noch von ihnen gehegt wird.
    Unten auf dem Geschützdeck ertönt rhythmischer Gesang, der sich langsam steigert und dann schlagartig in ein Getrommel vieler Füße auf Mahagonistufen übergeht, und plötzlich ist das Deck der Minerva mit Seeleuten bevölkert, die umherlaufen und miteinander kollidieren, wie eine lebende Demonstration der Vorstellung, die Hooke von Wärme hat. Daniel fragt sich, ob vielleicht im Pulvermagazin Feuer ausgebrochen ist und die Matrosen allesamt an Deck gestürzt sind, um von Bord zu gehen. Aber hier handelt es sich um eine hochorganisierte Form von Panik.
    Daniel tupft sich das Gesicht trocken, geht hinaus auf das Quarterdeck und wirft seinen tinteverklebten Federkiel über Bord. Die meisten Seeleute sind bereits in die Takelage aufgeentert und haben begonnen, riesige weiße Vorhänge herabzulassen, wie um der Landratte Daniel den Anblick der Flotte von Schaluppen und Walbooten zu ersparen, die aus jeder Bucht und Flussmündung der Plymouth Bay auf sie zuzulaufen scheinen. Felsen und Bäume an Land bewegen sich in Bezug auf feste Gegenstände an Bord der Minerva auf eine Weise, wie sie es nicht sollten. »Wir bewegen uns – wir treiben!«, protestiert er. Auf einem Schiff von der Größe der Minerva den Anker zu lichten ist eine aberwitzig komplizierte und langwierige Prozedur – zwei kleine Armeen rhythmisch singender Seeleute verfolgen einander um das riesige Spill auf dem Oberdeck herum, Schiffsjungen schrubben Schleim von der nassen Ankertrosse und streuen Sand darauf, um dem Führungskabel – einer dreimal um das Spill geführten Endlosschleife, von Taklern mit flinken Fingern ständig an einer Stelle entlang der Ankertrosse festgemacht und an einer anderen gelöst – besseren Halt zu bieten. Nichts davon ist in der Stunde seit Sonnenaufgang auch nur ansatzweise geschehen.
    »Wir treiben!«, beteuert Daniel gegenüber Dappa, der sich soeben gewandt vom Rand des Poopdecks geschwungen hat und beinahe auf Daniels Schultern gelandet wäre.
    »Aber natürlich, Käpt’n – wir sind alle in Panik, seht Ihr das denn nicht?«
    »Ihr urteilt zu streng über Euch und Eure Mannschaft, Dappa – und wieso redet Ihr mich mit Kapitän an? Und wie können wir treiben, wo wir gar nicht Anker gelichtet haben?«
    »Ihr werdet auf dem Poopdeck verlangt, Käpt’n – so ist’s recht, tretet nur vor -«
    »Lasst mich meinen Hut holen.«
    »Nicht doch, Käpt’n, wir wollen, dass sämtliche Piraten von New England – denn im Augenblick sind sie alle da draußen versammelt – Euer weißes Haar in der Sonne schimmern sehen, Euren kahlen Schädel, fahl und rosig, wie bei einem Käpt’n, der sich seit Jahren nicht an Deck gezeigt hat – hier entlang, Vorsicht, das Ruder, Sir – so ist’s recht – ob Ihr wohl ein bisschen mehr tapern könntet? Blinzelt in das ungewohnte Sonnenlicht – vortrefflich gespielt, Käpt’n!«
    »Der Herr steh uns bei, Mr. Dappa, wir haben unsere Anker verloren! Irgendein Wahnsinniger hat die Ankertrossen gekappt!«
    »Ich habe Euch doch gesagt, wir sind in Panik – vorsichtig die Treppe hinauf, brav, Käpt’n!«
    »Lasst gefälligst meinen Arm los! Ich bin durchaus imstande, allein -«
    »Immer gern zu Diensten, Käpt’n – genau wie der Holländer mit Schlagseite oben an der Treppe -«
    »Kapitän van Hoek! Warum seid Ihr wie ein gewöhnlicher Matrose gekleidet? Und was ist aus unseren Ankern geworden?«
    »Totes Gewicht«, sagt van Hoek und murmelt dann irgendetwas Holländisches.
    »Er sagt, Ihr zeigt genau die Sorte von ohnmächtigem Zorn, die wir brauchen. Hier, nehmt das Perspektiv! Ich habe eine Idee – warum späht Ihr nicht zuerst am falschen Ende hindurch – und macht dann ein verwirrtes und zorniges Gesicht, als ob irgendein Untergebener aus Dummheit die Linsen vertauscht hätte.«
    »Lasst Euch gesagt sein, Mr. Dappa, dass ich einmal mehr von Optik verstanden habe als jeder Mensch auf Erden, ausgenommen einer – möglicherweise auch zwei, wenn man Spinoza mitzählt -, aber der war nur ein

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