Quintessenzen
der neuen Umwelt, die Seele braucht Versicherung, weitgehend wortlose, dass sie willkommen ist. (Hat sie ihre letzte Existenz in Ruhe verlassen, darfst du dich auf entspannte Nächte freuen, andernfalls badest du die Übergangsschmerzen mit aus.)
Unsere Aufgabe besteht also im ersten Lebensjahr des Neuankömmlings ausschließlich darin, ihn vor körperlichem Unbill zu schützen sowie seine Seele zu beruhigen und ihr zu versichern, dass sie unseren Rückhalt hat, dass sie unter Freunden ist.
Mit dem Erwachen des »Ich« ändert sich unsere Aufgabe grundlegend. Denn was hier als »Persönlichkeit« erwacht, ist eben nicht die Seele, sondern ihr lebenslanger Kontrahent, das Ego. Die freie Entfaltung dieser Persönlichkeit haben wir daher zwar nicht zu unterbinden, wohl aber mit Argusaugen zu beobachten – und sie behutsam zu steuern. Denn das Ego will alles, was es kriegen kann. Es hat sich eben erst entdeckt, eben erst erfunden als »Ich«, und selbstredend will es jetzt wissen, was »Ich« alles darf und kann.
Welche Grenzen sollen wir ihm setzen? Wenn überhaupt? Ihm beibringen, dass seine Freiheit dort endet, wo die Freiheiten all der anderen Ichs beginnen? Das wohl sicher, aber vermutlich kriegt das Ich das früher oder später selbst heraus, notfalls mittels einer blutigen Nase. Dass nicht einmal diese Grenzziehung von den meisten Eltern vorgenommen wird, wollen wir an dieser Stelle unter den Tisch fallen lassen.
Problematischer, weil schwerer zu erkennen, sind die inneren Grenzen. Denn das Ich will nicht nur außen möglichst viel Platz, sondern auch innen. Dabei kommt es der Seele in die Quere, denn die Ziele des Ich sind mit denen der Seele oft nicht vereinbar. Deine Aufgabe besteht deshalb in den ersten Lebensjahren deines Kindes darin, dafür zu sorgen, dass es überhaupt ein Gehör für seine innere Stimme entwickeln kann, die Stimme der Seele. Versäumst du dies, hält dein Kind diese wesentliche Stimme lebenslang bestenfalls für ein Störgeräusch, einen Tinnitus, der das Ego nervt. Und übertönt wird die Stimme auf dem Weg ohnehin häufig genug, denn nicht nur das eigene Ego, auch das Leben an sich lärmt ohrenbetäubend.
Klingt nach einer Riesenaufgabe? Na ja. Na, komm! Du sollst ja nur wahlweise der Seelenstimme ein Megaphon zur Verfügung stellen oder dem Menschen, in dem sie wohnt, ein astreines Hörgerät. Dies oder jenes wird dann jahrelang ungenutzt in irgendeiner Ecke vor sich hin stauben wie ein Erste-Hilfe-Koffer, aber der Tag kommt, an dem der dringend gebraucht wird. Und an genau diesem Tag wird das Geschenk, das deinem Kind all die Jahre völlig nutzlos erschien, ihm das Leben retten.
Sitzenbleiber
In Sachen Prüfungen ist das Leben verblüffend simpel gestrickt. Du erlebst nämlich immer wieder dieselben und du hast immer wieder die gleiche Chance, zu bestehen und in die nächste Klasse versetzt zu werden. Du kannst allerdings genauso gut immer wieder sitzen bleiben.
Du hast das Glück, schon in der sechsten zu sein, im übertragenen Sinn. Dank deiner Herkunft, dank deines Geburtsortes, dank deiner Ausbildung, dank der Liebe deiner Eltern, dank deiner Gesundheit und der Dinge, die du aus dem Kosmos mitgebracht hast. Nun liegt es bei dir, die nächsten Klassen zu schaffen. Schaffst du alle, wirst du glücklich. Oder kommst ins Nirwana. (Die Buddhisten würden hinzufügen: Und darfst dort bleiben, also auf die nächste Erdenrunde verzichten; aber das lassen wir an dieser Stelle mal unter die Bank fallen.)
Es ist allerdings verblüffend, wie blöd sich mancher bei diesen Prüfungen anstellt. Der wird dann zum Beispiel beim ersten Mal gefragt, »Wie viel ist 3 x 3?«, sagt »8« und fällt durch. Das kann passieren. Unser Prüfling wiederholt also sein Schuljahr, macht alles noch mal, und kommt wieder an den gleichen Punkt, zur gleichen Prüfung, und wird wieder gefragt: »Wie viel ist 3 x 3?« Worauf unser Prüfling sagt: »8.«
Das ist dann schon ein bisschen behämmert, aber der erneut Durchgefallene schlägt sich nicht etwa vor den Schädel und sagt »Aaargh! Ich Idiot!«, sondern zeigt sich uneinsichtig und sagt, sowohl der Vorjahreslehrer als auch dieser habe a) keine Ahnung und b) etwas gegen ihn persönlich. Er, der Durchgefallene, wisse nämlich, »3 x 3 = 8«, und wer etwas anderes behaupte, sei ein Lügner. Weil …
An dieser Stelle folgen dann allerlei Erklärungen, die für den Durchgefallenen absolut logisch klingen und für jeden seiner Zuhörer wie »Von wegen,
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