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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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widerwillig.
    Er ging zu seinen Soldaten und befahl ihnen, mit Sebastián, Qaytu und dem Rest der Zugs von der Hauptstraße abzubiegen, sobald sie eine Seitengasse fänden.
    Sie versuchten es. Doch vergebens. Bald wurden sie von einer lärmenden Menge umringt, die sie samt ihren Tieren die Hauptstraße entlang zum Marktplatz drängten, wo das Gatter für das blutige Spektakel aufgebaut war.
    Sie hielten erst inne, als sie auf einen Mischling trafen, vor dem die Indios sich ehrerbietig verbeugten. Die Züge des Mannes waren die eines Indios, mit Ausnahme der Augen vielleicht, die größer waren. Dem edlen, prachtvoll geschirrten und mit Silberringen geschmückten Pferd, seinem stolzen Verhalten und seiner Kleidung nach hätte man ihn jedoch gut für einen spanischen |308| Adligen halten können. Auf dem langen, krausen Haar saß ein Dreispitz, und er trug einen Gehrock, ein besticktes Hemd und eine Weste aus Goldbrokat, schwarzsamtene Kniehosen, weiße Seidenstrümpfe und goldene Schnallen an den Schuhen. Über den Rock hatte er einen dunkelvioletten Mantel oder
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aus einheimischer Wolle geworfen, in den die Insignien seiner Vorfahren gestickt waren. Seine ganze Erscheinung drückte die Würde eines geborenen Herrschers aus.
    Der Mann blickte Sebastián unverwandt an, während Gálvez dem Ingenieur ins Ohr flüsterte: »Das ist der Kazike, der sich Túpac Amaru nennen lässt.«
    Das also ist der berühmte José Gabriel Condorcanqui,dachte Sebastián, über den in Zúñigas Haus so viel gesprochen worden ist. Der Mann hatte etwas an sich, das ihn tief berührte. Ihm gegenüberzustehen war, als erblickte er sich selbst in Uminas schwarzem Spiegel. Und Condorcanqui schien es ähnlich zu ergehen, denn es war offensichtlich,dass er dieselbe Überraschung empfand,die Sebastián bei der Mestizin und Qaytu hatte beobachten können, als sie ihn im Theater von Madrid zum ersten Mal sahen.
    Man schob Sebastián und seine Männer nun zu einer Tribüne, der gegenüber sich eine weitere erhob, auf der der Kazike Platz nahm.
    »Der Stierkampf hier verläuft anders als in Spanien«, flüsterte Gálvez Sebastián zu. »Zwar gibt es einen wilden, in Freiheit aufgewachsenen Stier, aber er wird von einem Kondor angegriffen werden.«
    »Der, den wir vorhin in dem Käfig gesehen haben?«
    »Genau der. Der Kondor ist nach dem Puma und der Schlange das heiligste Tier der Indios.«
    »Und wie schaffen sie es, dass ein Stier und ein Kondor gegeneinander kämpfen?«
    »Das werden Sie gleich sehen. Diese Tradition wird im Übrigen nur von Indios gepflegt, die nicht im Dienste von Spaniern stehen, sondern noch in ihren ursprünglichen Gemeinschaften leben, den sogenannten
ayllus

    |309| »Und wie lange wird das Ganze dauern?«
    »So lange, wie der Kondor braucht, um den Stier zu besiegen.«
    »Woher wissen Sie, dass der Kondor gewinnen wird?
    »Das ist meistens der Fall. Danach wird er im Triumphzug durch die Stadt getragen, und anschließend lassen sie ihn frei, damit er auf die Berggipfel fliegen kann und sie fortan beschützt.«
    »Und wenn der Stier gewinnt?«
    »Beten Sie, dass das nicht passiert. Wenn der Kondor ernsthaft verwundet wird oder, schlimmer noch, wenn er stirbt, so bedeutet das Unglück. Die Indios sind eh schon in großer Aufruhr.«
    Sie verstummten, als sie den Feuerwerker bemerkten, der nun den Docht eines Krachers entzündete, das Zeichen zum Loslassen der Tiere. Die Indios auf den Tribünen um den Marktplatz sprangen auf, als das Tor aufging und der Stier auf den Festplatz stürmte. Den Kondor hatte man mithilfe einiger Metallringe auf seinen Rücken gebunden. Erschrocken über die Kracher und das Geschrei der Menge, versuchte der Geier das Gleichgewicht zu halten, indem er mit den Flügeln schlug und seine messerscharfen Klauen und den Schnabel in den Rücken des Kampfstieres schlug. Wie verrückt rannte der Stier hin und her und versuchte ihn abzuschütteln, riss alles nieder, was ihm in die Quere kam, doch bald war er gänzlich mit Blut überströmt.
    Schließlich traten ein paar junge Indios auf den Platz. Sie trugen einen Kopfschmuck in den Farben ihrer Dörfer, und über die nackten Oberkörper hatten sie dünne Ponchos geworfen. So erwarteten sie den Angriff des Stiers, den sie parierten, indem sie im letzten Augenblick zur Seite sprangen. Und jede dieser Mutproben schien den Tribünen zu gelten, die auf der einen Seite von Sebastián und auf der anderen von Condorcanqui präsidiert wurden.
    Sebastián fühlte

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