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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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sich zunehmend unwohler, empfand er sich doch als Zielscheibe sämtlicher Blicke. Es war unverkennbar, dass der Kampf des Kondors mit dem Stier den Widerstand der Eroberten gegen die Spanier repräsentierte. Der Kondor, der in Freiheit umherflog, sah sich auf einmal dem Stier gegenüber, verkörpert |310| durch den
encomendero
. Und das vergossene Blut stellte den Tribut an die Mutter Erde dar, an jene
Pacha Mama,
der man das zurückgab, was ihr rechtmäßig zustand.
    Es war eine endlose Qual. Stier und Kondor wurden immer wieder neu angestachelt, bis beide vollkommen erschöpft waren. In seiner Verzweiflung flüchtete der Stier sich schließlich mit hängender Zunge und Schaum vorm Maul in eine Ecke, wo er mit markerschütterndem Gebrüll zu taumeln begann, zur Seite fiel und den Kondor unter sich begrub.
    Einen Augenblick lang waren alle wie gelähmt. Es herrschte vollkommene Stille. Als die Blicke sich wieder auf Condorcanquis und Sebastiáns Tribünen richteten, hatte Qaytu bereits seine Maultiertreiber angewiesen, die Tiere loszubinden.
    Gálvez beugte sich zu Sebastián hinüber. »Machen Sie jetzt ein einziges Mal, was ich Ihnen sage, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Wir müssen hier schnellstens weg. Aber es darf unter keinen Umständen nach Flucht aussehen. Gehen Sie unauffällig hinter die Tribüne und steigen Sie auf ihr Pferd, das Qaytu dort für Sie bereithält.«
    Doch es war bereits zu spät, erneut wurden sie von den Indios umringt.
    »Ich habe Sie gewarnt: Wir hätten diese Stadt nie betreten sollen«, murmelte Gálvez düster.

|311| Die Manufaktur
    D a erklang hinter dieser menschlichen Mauer auf einmal eine wohlklingende, Autorität verströmende Stimme, worauf die Indios zurückwichen. Es war José Gabriel Condorcanqui, jener Kazike, der sich Túpac Amaru II. nennen ließ. Und die Menschen reagierten auf seine Worte mit derselben respektvollen Stille, die sein Vorgänger zwei Jahrhunderte zuvor in Cuzco erfahren hatte, wie Sebastián aus der Chronik wusste.
    Sebastián schritt durch die so wundersam eröffnete Gasse zu seinem Pferd. Er war wachsam, doch niemand wagte es, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Der Kazike sprach ihn nicht an, als er an ihm vorbeiging. Doch er bedachte ihn erneut mit einem seltsam musternden Blick wie bereits vor dem Stierkampf. Der Ingenieur wurde das Gefühl nicht los, dass er sicher anders gehandelt hätte, wäre Gálvez nicht zugegen gewesen. Doch offensichtlich wollte Condorcanqui weder den Ingenieur in etwas hineinziehen noch sich selbst in Schwierigkeiten bringen. Aber warum hatte der Kazike wohl so gehandelt? Sebastián spürte, dass hinter dem Ganzen noch ein anderer, ihm unbekannter Grund lag.
    »Mit welchen Worten hat Condorcanqui die Menge eigentlich besänftigt?«, fragte er deshalb Gálvez, sobald sie die Stadt hinter sich gelassen hatten.
    »Er hat sie daran erinnert, dass der eigentliche Verantwortliche für das Ganze nicht Sie sind, sondern   …«
    »Carvajal.«
    »So ist es. Und er fügte hinzu, dass er sich auf dem Fest hätte zeigen müssen, anstatt sich auf seinen Ländereien zu verschanzen.«
    |312| »Wir müssen hin!«, rief Sebastián voller Entschlossenheit aus.
    »Sind Sie verrückt? Condorcanqui hätte deutlicher nicht sein können. Seine Worte waren eine Aufforderung, Carvajal anzugreifen. Wohin, meinen Sie wohl, sind die ganzen Leute unterwegs?«
    »Verflucht seien Sie, Gálvez! Umina ist in der Tuchmanufaktur. Und auch Qaytus Familie.«
    Der Unteroffizier drehte sich zu Qyatu um, der hinter ihnen ritt. Dessen angsterfülltes Gesicht sagte alles.
    »Ohne Artillerie kann man diesen Ort nicht einnehmen, er ist unbezwingbar«, versuchte der Kreole sich herauszureden. »Und wie Sie selbst uns gerade in Erinnerung riefen, haben Carvajal und Montilla Geiseln. Was können wir da alleine ausrichten?«
    »Wir sind nicht allein.«
    Sebastián zeigte auf die wütende Menge hinter ihnen, die nun in Richtung Manufaktur marschierte.
    »Das ist ja noch schlimmer«, erwiderte Gálvez. »Damit werden wir zu Komplizen des Pöbels. Ich habe Sie mit meinen Soldaten begleitet, um Ihren Zug zu eskortieren, nicht um die Ländereien eines
encomendero
anzugreifen. Und am wenigsten die von Carvajal!«
    »Wir werden niemanden angreifen, wir werden lediglich Umina und die festgehaltenen Indios befreien. Oder wollen Sie sie etwa ihrem Schicksal überlassen?«
    »Ich sehe schon, diese Mestizin hat Ihnen ordentlich den Kopf verdreht. Aber ich kann Ihnen versichern,

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