Quipu
der eigentliche Weg kaum noch zu erkennen. Ein einziger Fehltritt konnte sie das Leben kosten. An vielen Stellen war auf der einen Seite des Pfades die senkrechte Steilwand, auf der anderen der Abgrund. Und einige Hänge waren so steil, dass Stufen hineingehauen waren, um den Maultieren einen gewissen Halt zu geben. Dennoch war der Aufstieg für die Tiere ermüdend, sodass sie oftmals rasten mussten, wobei die Maultiertreiber sich gegen ihre Flanken lehnten, damit die Tiere einigermaßen ruhig durchatmen konnten.
Qayto führte den Zug mit seinem Maultier Cerrera an. Bei jeder Kurve prüfte er den Weg vor sich. Auf den ersten Abschnitten hatten sie keine Probleme. Doch je höher sie stiegen, umso heftiger blies der Wind und wirbelte immer mehr Sand auf.
Als sie fast schon oben angekommen waren, machte Cerrera auf einmal Schwierigkeiten. Sie hatte etwas gewittert. Die Nachkommenden verfolgten das Geschehen mit angehaltenem Atem. Sollte sie abstürzen, würde sie auf die anderen fallen und die ganze Reisegesellschaft mit sich in die Tiefe reißen. Qaytu wollte sie unbarmherzig weitertreiben, doch das Tier bockte, sodass er abstieg |331| und ihre Hinterhufe untersuchte. Das Maultier wollte jedoch nur seinem natürlichen Instinkt folgen und suchte auf dem sichersten Felsen Halt, was sein Herr jedoch nicht erkannte. Er bemühte sich, es von hinten auf den richtigen Weg zu bringen, doch als das Tier seine Stellung ändern wollte, geriet es ins Rutschen.
Umina zögerte nicht. Sie drückte Sebastián ihre Zügel in die Hand, nahm das Gewehr aus dem Futteral und stützte sich auf einem Felsvorsprung ab, um eine sichere Hand zu haben.
»Qaytu, an die Wand! Klammere dich an den Felsen!«, schrie sie.
Dann fiel ein Schuss. Cerreras Augen waren weit aufgerissen. Und genau dazwischen schlug das Blei ein. Das Tier knickte ein, die Hinterhufe verloren den Halt, und in eine Staubwolke gehüllt, stürzte es in den Abgrund. Dann hörten sie noch das Splittern der Knochen, das Fallen der Steine, bis der tosende Fluss das Tier aufnahm.
Umina legte eine Hand auf die Schulter des bekümmerten Qaytu und sagte ihm mit dieser Geste mehr, als tausend Worte es vermocht hätten.
Sebastián bemerkte die Verlorenheit des Maultiertreibers, der, auf der Suche nach einem anderen Maultier, wie eine Büßerseele durch den Zug streifte. Und er nahm auch wahr, wie er ein Tier am Ende des Zuges von seiner Ladung befreite und bestieg. In dieser Haltung verblieb er den Rest des Tages, fern von allen, gefangen in einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das in so großem Gegensatz zu seiner außergewöhnlichen Größe stand.
Ein Stück weiter verrieten ihnen die typischen Steinhaufen, dass sie sich auf der Scheidelinie zwischen den beiden Bergketten befanden. Nun fehlten ihnen nur noch drei Poststationen bis Cuzco.
|332| Cuzco
A ls sie den Hügel von Carmenca überwunden hatten, tauchte zu ihren Füßen die alte Hauptstadt auf. Aus den Kaminen stieg träge Rauch empor und legte sich bläulich über die roten Ziegeldächer. Im Hintergrund tränkte das Licht die ockerfarbenen Hügel.
Die Maultiertreiber nahmen ehrfürchtig ihre Kopfbedeckungen ab. Für sie war Cuzco nicht nur das Ziel dieser Reise, sondern noch immer ihr »Nabel der Welt«, der Mittelpunkt von Tahuantinsuyu, des Reiches der vier Himmelsrichtungen.
Trotz der hohen Lage wirkte die Stadt in dieser gebirgigen Landschaft wie eine Oase. Sie lag im Herzen jener Gabel, die der Fluss Apurímac, der sie im Westen schützte, mit dem im Osten verlaufenden Urubamba bildete, ehe diese ihre Wasser vereinten und zum Ucayali wurden, einem der Quellflüsse des Amazonas.
Geschützt von der Festung Sacsahuamán, befand sich die Altstadt auf einer imposanten Anhöhe genau zwischen dem Huatanay, einem der Nebenflüsse des Urubamba, und dem Tullaymayo, die schließlich im Süden zusammenflossen und so den Umriss eines riesenhaften Pumas nachzeichneten, eines der heiligen Tiere der Inkas. Sein Kopf befand sich im Nordwesten auf dem Festungshügel, den Schwanz bildete der Zusammenfluss der beiden Wasserläufe im Südosten, und die Plaza de Armas diente der Raubkatze als Herz. Weiter unten, auf Höhe der Geschlechtsteile, hatte einst der Sonnentempel,der Coricancha,gestanden,über dem sich nun das Kloster Santo Domingo erhob.
»Dort müssen wir hin«, sagte Umina. »Dort liegt Sírax’ Grab.«
|333| »Es wird nicht einfach sein, hineinzugelangen«, erwiderte Sebastián, hatten sie doch gesehen, dass
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