Quipu
deutlich bescheidener. Und es gab noch ein drittes: Statt des Kreuzes, das die anderen Gräber aufwiesen, war hier der unverwechselbare Blutknoten eingraviert.
Sebastián bekam eine Gänsehaut, als er mit seinen Fingern darüberstrich. Er musste unwillkürlich an sein Familienwappen und das leere Grab in der Burg seiner Vorfahren denken.
Da spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Umina war zu ihm getreten und ging nun neben ihm in die Hocke, um die in den Stein gemeißelten Buchstaben zu lesen. Dann sah sie ihn an.
»Das ist es. Endlich. Ich kann es kaum glauben.«
Sebastián stand auf und bedeutete Qaytu, ihm zu helfen, den Grabdeckel zu öffnen.
Die Platte war leichter als die von Túpac Amarus Sarkophag, und die Mumie, die zum Vorschein kam, deutlich kleiner, doch war sie ebenso gut erhalten, vom Kopf bis zu den schwarzen, nach alter Sitte gestanzten Schuhen. Sie hatte die Arme vor der Brust gekreuzt, die linke Hand lag auf der rechten.
Sie untersuchten das Grab genau. Doch vergeblich. In dem Grab lag lediglich Sírax’ Mumie.
»Das ist alles?«, fragte Umina ungläubig.
»Versetzen wir uns einmal in ihre Lage«, schlug Sebastián vor. »In einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht konnte, dessen Schrift sie nicht verstand, versuchte sie, den Ihren eine Botschaft zu hinterlassen. Wie konnte sie ihren Leuten die Lage Vilcabambas deutlich machen? Mittels einer Landkarte?«
|368| »Nein, die hätte man stehlen können«, antwortete die Mestizin nachdenklich.
»Mit einem Quipu?«
»Wir haben aber kein Quipu entdeckt«, sagte Chimpu entmutigt.
Sie nahmen das Grab noch einmal in Augenschein, mit zunehmender Ungeduld. Sie suchten und suchten und mussten sich dennoch nach einer Weile geschlagen geben.
»Nur eine in weißen Stoff gewickelte Mumie. Weiter nichts«, sagte Sebastián, sichtlich enttäuscht.
Doch Umina gab nicht so leicht auf.
»Einen Augenblick. Lasst mich nachsehen, was sich unter der
ñañaca
befindet.
Sie meinte das Tuch um den Kopf der Mumie. Das, was sie darunter erblickten, ließ sie vor Überraschung erstarren.
|369| Im Bauch des Pumas
A ls Umina das Tuch abnahm, fiel Sírax’ Haar über den weißen Stoff des Leichentuchs. Um ihren Kopf war ein dicker Zopf festgesteckt, von dem feinere Zöpfe herabhingen, die in regelmäßigen Abständen Knoten aufwiesen. Umina fuhr an den wie ein Diadem ausgebreiteten Flechten entlang.
»Genau einundvierzig!«, rief sie nach einer Weile. »Gib mir das rote Quipu.«
Der Ingenieur löste das Quipu von seinem Hals und reichte es ihr. Sie nahm die feinen roten Schnüre zwischen ihre Finger, tastete die Knoten ab und verglich sie mit denen der Flechten.
»Kein Zweifel, diese Frisur ist wie das Quipu geflochten«, erklärte die junge Frau schließlich freudig.
»Wie kommt es, dass sich ihr Haar so gut erhalten hat?«, fragte Sebastián.
»Das Haar war das, was die Inkaprinzessinnen am besten pflegten. Sie wuschen es mit verschiedenen Pflanzensäften. Sírax hat das bis zum Äußersten betrieben und konnte es so in ein Quipu verwandeln, das sie überleben sollte.«
»Also hat sie es von ihrer Dienerin genauestens in ihrem Haar nachflechten lassen, ehe sie die Chronik damit band. Aber das ist noch nicht alles, oder?«
»Nein.« Aufgeregt zeigte die Mestizin auf eine rote Schnur, die einige der Knoten miteinander verband. »Wenn das rote Quipu, das du um den Hals trägst, eine Landkarte ist und seine Schnüre die
ceques
und die Knoten die
huacas
versinnbildlichen, dann weist uns diese Schnur vielleicht den Weg zu der Verlorenen Stadt.«
|370| »Also müssen wir nur diese Schnur in unser Quipu einfügen?« fragte Sebastián ungläubig.
»Genau«, antwortete Umina.
Sie löste die Litze aus weißer Seide, die ihr Haar zusammenhielt, und reichte sie Chimpu, damit er in dem roten Quipu dieselben Knoten miteinander verband wie die rote Schnur in Sírax’ Haartracht.
»Wenn sie sich an ihre Leute wenden wollte, warum musste sie dann auf eine solche Botschaft zurückgreifen?«, fragte Sebastián nachdenklich. »Das war doch sehr riskant.«
Die beiden jungen Leute sahen sich an. Etwas Schlimmes musste dieser Frau widerfahren sein, dass sie sich gezwungen sah, so vorzugehen. Welchen Schwierigkeiten war Sírax ausgesetzt gewesen, dass sie nur noch ihrem eigenen Körper vertrauen konnte?
»Die Antwort liegt vielleicht in dem Weg, den diese Schnur weist«, mutmaßte Umina leise.
»Aber wie erkennen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«, fragte
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