Quipu
waren. So wurde zum Beispiel alles, was mit Zählen und Rechnen zu tun hatte, damit festgehalten.«
|49| »So, wie wir das mit unseren Abakussen taten?«
»So ungefähr, aber in viel größerem Maßstab. Offensichtlich verwendeten die Inkas die Quipus für die gesamte Verwaltung ihres immens großen Reiches: die Zahl der Untertanen und Krieger, die Ländereien, ihre Vorräte, Tiere … Dein Vater behauptet in seinen Aufzeichnungen, sie hätten alles, bis auf die letzte Sandale, mit den Knoten verzeichnet.«
»Das ist doch ohne Schrift gar nicht möglich«, sagte Sebastián und schüttelte den Kopf.
»Man müsste die Quipus, die damals gerettet wurden, finden und sie zu entschlüsseln suchen. Vielleicht ist das die Aufgabe, die dein Vater uns übertragen hat. In der Chronik wird ständig auf sie angespielt, insbesondere auf eines, wie du noch sehen wirst. Deswegen mutmaßte Juan, dass dieses besondere Quipu den Weg zu dem Schatz birgt. Vielleicht muss man nur die einzelnen Bestandteile der Chronik nach einer bestimmten Ordnung miteinander verknüpfen, um den roten Faden zu finden, der zu dem Geheimnis führt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Juan hat versucht, das Gelesene mithilfe der Fächer seines Sekretärs zu ordnen. Irgendwo hat er, glaube ich, auch aufgeschrieben, nach welchen Kriterien er dabei vorgegangen ist.«
»Aber dieses besondere Quipu, ist das eine solche Knotenschnur wie die, die Sie mir beschrieben haben? Oder geht es um eine bestimmte Stelle in der Chronik, die sich darauf bezieht oder es beschreibt?«
»Das weiß ich nicht, Sebastián. So oft konnten wir nicht miteinander reden, denk daran, dass dein Vater im Rollstuhl saß und die meiste Zeit des Tages von Bediensteten umgeben war, sodass ich nur einmal am Tag die Falltür öffnen konnte. Das Quipu war jedenfalls das Puzzleteil, das deinem Vater fehlte, um alles, was in der Chronik dargelegt wird, in einen Zusammenhang zu bringen. Und das ist es wohl auch, was der Mörder sucht. Auf jeden Fall muss dieses Quipu ein ganz besonderes sein. So besonders, dass 1773 eine unter Cristóbal de Fonsecas Obhut stehende Frau die |50| Chronik in einem geheimen Schiff nach Spanien gebracht hat. Eine Frau, der die Inkas aus Vilcabamba vielleicht das Wertvollste ihrer ganzen Kultur anvertraut hatten.«
»Wollen Sie damit sagen, sie haben alles auf eine Karte gesetzt?«, fragte Sebastián erstaunt. »Dann müssen sie aber sehr verzweifelt gewesen sein.«
»Vergiss nicht, dass sie sich in einer für sie völlig neuen Situation befanden, die sie zu außergewöhnlichen Mitteln zwang. Versuch dir das doch mal vorzustellen: Eines der größten und mächtigsten Reiche der Geschichte sah sich von einem Tag auf den anderen vom Aussterben bedroht, und das wegen eines Trupps von rund hundertsiebzig spanischen Abenteurern unter Francisco Pizarros Führung. Die tapfersten Indios zogen sich in eine Bergfeste zurück, Vilcabamba, von wo aus sie noch sechsunddreißig Jahre lang Widerstand leisten konnten, ein letzter Aufschub für den Erhalt ihrer Zivilisation, ihrer Schätze und Geheimnisse, mittels deren sie es geschafft hatten, eine so wilde Natur wie die der Anden zu zähmen. Und in dieser kurzen Zeit und auf diesem engen Raum mussten sie eine geheime Botschaft hinterlassen, die die Spanier überdauern würde. Eine Botschaft für ihre Nachfahren, die von den Konquistadoren weder entdeckt noch zerstört werden konnte. Und hier kommen die rätselhaften Knotenschnüre ins Spiel. Indem sie sie einfach in ihre Stoffe verwebten, konnten sie ihre Geheimnisse weitergeben, ohne dass die Eroberer ahnten, dass es sich hierbei um lebendige Archive handelte. Man musste nur irgendjemandem den Schlüssel dafür anvertrauen.«
»Und wie haben Sie und mein Vater von dieser ganzen Geschichte erfahren?«
»Ich war Archivar des
Colegio Imperial
von Madrid, wo die Papiere über die Überfahrt des Schwarzen Schiffes im Jahre 1573 verwahrt wurden. Am Tag unserer Vertreibung hatte es allerdings jemand genau darauf abgesehen.«
»Und dieser Jemand hat sie nun in seinem Besitz.«
»Nein, er hat sie nicht gefunden, weil ich sie ein paar Jahre zuvor bereits nach Lima geschafft hatte. Es war eine eigennützige Reise, |51| ich gebe es zu. Ich wollte sie mit denen im dortigen Jesuitenarchiv abgleichen und übersetzen lassen.«
»Dann mussten also die, die hinter diesen Papieren her waren, glauben, sie hätten sie deshalb nicht gefunden, weil Sie sie hier in Madrid versteckt hatten.«
»Und
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