Quipu
Wasseroberfläche schimmerten. »Sie sehen aus wie Glühwürmchen. Einmal, als ich in einer Augustnacht hier auf unseren Ländereien war, fielen zahlreiche Sternschnuppen vom Himmel. Ich entdeckte ein Licht im Gras und fing es ein, in dem Glauben, es sei ein Stück herabgefallener Himmel. Das Lichtlein habe ich dann unter ein umgedrehtes Glas auf meinen Nachttisch gestellt und im Dunkeln betrachtet, bis ich einschlief. Als ich am nächsten Morgen erwachte, musste ich entdecken, dass ein Wurm meinen Stern aufgefressen hatte.«
Sie lachten beide. Nach einer Weile brach Umina das Schweigen.
»Ich habe dich heute mit unseren Leuten arbeiten sehen«, sagte sie leise. »Es hat mir sehr gefallen, wie du dich unter ihnen bewegt hast. Du hast überhaupt nicht wie ein Militär gewirkt.«
»Meine wahre Leidenschaft gilt dem Bauen.«
»Und warum widmest du dich dem nicht direkt?«
»Weil es in Spanien keine zivilen Ingenieure gibt wie zum Beispiel in Frankreich. Und weil nach der Vertreibung der Jesuiten die Militärschulen die einzig ordentlichen Bildungsstätten sind.«
»Verzeih, ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
»Das tust du nicht. Ich habe mir diese Frage selbst auch hundertmal gestellt.«
Sebastián verstummte, ergriffen vom Zauber dieser Nacht, der wie ein Lockruf zu sein schien. Die Sehnsucht, die er spürte, war groß. Ein schmerzhaftes Zittern überfiel ihn, hielt ihn zurück, um ihn gleich darauf wieder in Richtung Umina zu drängen. Er war ihr völlig ausgeliefert, doch irgendetwas in seiner Brust, eine unerklärliche Scham, hinderte ihn daran, weiterzugehen. Wie viele Sterne hatten sich im Laufe seines Lebens, mit zunehmenden Enttäuschungen, zu einfachen Würmern verwandelt? Aber warum dachte er das jetzt, ausgerechnet jetzt? Er fragte sich, ob es wohl an seiner jesuitischen Erziehung lag, an den Vorurteilen seiner |400| Ahnen in Bezug auf die Reinheit des Blutes. Oder waren es die fürchterlichen Erinnerungen an seine große Liebe?
Der Gesang und die Musik unten in der Hazienda waren verstummt, man hörte nur noch das muntere Rauschen des Wassers und das Zirpen der Grillen. Sebastián spürte den Atem der Mestizin, eins mit dem Zauber des funkelnden Himmelsgewölbes. Doch er wagte nicht zu sprechen.
»Wir müssen morgen sehr früh aufstehen. Lass uns zurückgehen«, sagte Umina schließlich und stand auf.
An der Tür zu ihrem Schlafzimmer wandte Umina sich noch zu Sebastián um. Dann hob sie ihre Öllampe in die Höhe, um Sebastiáns mit ihrer Flamme zu entzünden. Die Mestizin trug ihr Haar offen, und ihre sanft geöffneten Lippen verrieten einen sehnsüchtigen Mund. Ihre Augen glitzerten mit merkwürdiger Intensität, zeigten ihm das Mädchen, das ihn bat, sich nicht zu fürchten, lang verdrängte Gefühle wieder zuzulassen.
Sie öffnete die Tür,streckte ihm die Hand entgegen. Er schwankte,atmete schwer,biss sich auf die Lippen. Es war ein wundervoller Tag gewesen, einer von jenen, an denen die körperliche Müdigkeit sich in vollkommene Zufriedenheit verwandelt, wie er es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Und das war etwas zu Schönes, um es durch eine überstürzte Entscheidung aufs Spiel zu setzen.
Er nahm seine Öllampe und sagte mit zitternder Stimme: »Gute Nacht, Umina. Schlaf gut.«
Während er wie ein Schlafwandler durch den Flur schritt und sein Zimmer suchte, hörte er, wie sie hinter ihm die Tür schloss. Er spürte sein Herz heftig schlagen und verfluchte seine Schüchternheit. Doch nun war es zu spät.
Da vernahm er einen Schrei. Er rannte durch den Flur zurück und wollte schon gegen ihre Tür hämmern, da stürzte Umina heraus und deutete hinter sich auf das vergitterte Fenster.
»Dort, dort draußen!«, stammelte sie.
Er sah hinunter auf den Hof. Und es schien ihm, als bewegte sich die Hecke neben der Hauswand.
|401| »Der einäugige Alte.« Sie ergriff seine Hand. »Ich habe Angst, Sebastián. Lass mich bitte nicht allein.«
Sie blickten sich stumm an. Es lag nicht nur Begehren in diesen Worten, jenes ihrem tiefsten Inneren entspringende Sehnen, Raum und Zeit um sich herum zu vergessen, das sich seinen Weg durch sämtliche Poren bahnte. Es war noch viel mehr. Ihre alten Spielsachen lagen ausgebreitet neben dem Obsidianspiegel. Sie bot ihm ihre Welt dar, öffnete ihm das Tor zum Paradies ihrer Erinnerungen.
|402| Ollantaytambo
D er Sonnenaufgang überraschte sie unterwegs. Umina war es sehr schwergefallen, Yucay zu verlassen. An der Stelle, an der man die
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