Quipu
Bewässerungskanälen stundenlang entlanggehen konnte. Und er war sich sicher, dass dies sogar tagelang, wenn nicht gar wochenlang möglich war. Die Kanäle verliefen beharrlich über Berg und Tal, hielten mithilfe von Aquädukten stets die richtige Neigung entsprechend den Erhebungen eines Landes, das nur aus hohen Bergen und engen Tälern zu bestehen schien, bildeten ein Netz, das zusammen mit den sich über Berge und Flüsse erstreckenden Wegen die unbezähmbare Natur bezwingen wollte.
Aber da war noch etwas. Nun, da Sebastián Huayna Cápacs einstige Ländereien wie eine Landkarte vor sich ausgebreitet sah, wurde ihm die Tragweite der Inkakultur bewusst.
»Ist dir die Form dieser Ländereien aufgefallen?«, fragte er Umina.
»Was meinst du damit?«, wollte sie verwundert wissen.
»Ich denke an das, was Chimpu uns erzählt hat: Dass die Quipus ein Modell für alles gewesen sind. Sieh dir die Bewässerungskanäle an. Sie sind der Schlüssel, ohne sie gibt es keine Landwirtschaft, und das war das Erste, was die Inkas berechnen mussten. Das Wasser fließt durch einen Hauptkanal, der von den Bergen herabkommt. Von diesem gehen die Verästelungen in die jeweiligen |395| Terrassen ab. Und dort wiederum sickert das Wasser in die einzelnen Furchen.«
»So als ob der Hauptkanal der Rücken eines Kamms und die Unterkanäle seine Zinken wären?«
»Genau. Und dasselbe gilt für die Terrassen und die Wege. Und ebenso für die Treppen, die Bewässerungsbecken und die Anlage der Dörfer. Hier ist ein Quipu eine Landkarte par excellence.«
»Du meinst, das war beabsichtigt?«
»Anders ist es kaum möglich. Wenn sie alles wie ein Quipu anordneten, konnte alles auch in einem Quipu festgehalten werden.«
»Und einmal ›aufgeschrieben‹, ließen sich damit auch die Arbeitsschichten einteilen, entsprechend den jeweiligen Erfordernissen wie Säen, Anbauen, Bewässern oder Ernten.«
»All das diente dazu, Wissen zu speichern. Und es vermittelte ihren Untertanen das Gefühl von Ordnung, Kontrolle, Herrschaft, Macht.«
»Dieselben Prinzipien, die Huayna Cápac in der Architektur vermitteln wollte.«
»Und vielleicht Sírax mit dem roten Quipu«, fügte Sebastián nachdenklich hinzu.
Er verstand nun immer besser, was sein Vater aufzuzeigen versucht hatte. Dort vor ihm zeigte sich, wie man eine Landschaft ohne Schrift formen konnte wie eine lebendige Landkarte. Land, Wasser und Sterne hatten einzigartige Orte geschaffen, bewässert mit dem Schweiß der Inkas, und das alles war in einem großen Quipu aus Terrassen und Bewässerungsgräben miteinander verknüpft.
Nachdem sie die Kanäle markiert hatten, mit denen sie den Graben schnell füllen konnten, verbrachte Sebastián den Rest des Tages damit, das Umleiten des Wassers zu beaufsichtigen. Umina ließ jedoch nicht zu, dass er selbst Hand anlegte.
»Hier gibt es genügend Leute, die das übernehmen können.«
Sie zwang ihm einen Helfer auf, Yarpays ältesten Sohn, einen aufgeweckten, noch keine sechzehn Jahre alten Jungen. Dann inspizierte |396| sie selbst die Waffen, während der Verwalter sich an die Spitze der Männer stellte, die den alten Schutzwall wieder instand setzten.
Am späten Nachmittag war die anstrengende Arbeit beendet. Unter dem dichten Laubwerk eines Pisonay-Baumes waren ein paar Holztische für das Abendessen aufgestellt worden.
Umina hatte Anweisung gegeben, es bei Tisch an nichts mangeln zu lassen, weshalb nun die verschiedensten traditionellen Maisgerichte wie
tamales, humitas
oder grüne
choclos
mit Frischkäse serviert wurden, aber auch gebratenes Lamm oder Hammel mit Eiern. Auch zu trinken gab es im Überfluss, Maisbier, Wein und aromatischen Pisco.
Umina überredete Sebastián, eine
uñuela
zu probieren, und reichte ihm diese pfirsichartige Frucht mit samtener Haut. »Ich habe noch nie eine so köstliche Frucht gegessen«, musste er zugeben, als er sie gekostet hatte.
Es wurde lautstark Beifall geklatscht. Dennoch spürte er, dass man noch etwas anderes von ihm erwartete. Yarpay, der neben Sebastián saß, stieß ihn verstohlen an und reichte ihm eine Frucht, die er noch nie im Leben gesehen hatte.
»Danke, ich bin satt«, sagte Sebastián.
Da lachten alle, vor allem die Frauen.
»Die ist nicht für Sie«, flüsterte der Verwalter ihm ins Ohr. »Wenn eine Frau einem Mann so etwas Besonderes wie
uñuelas
anbietet, muss er sich revanchieren. Das ist eine Papaya. Schenken Sie sie ihr.«
Sebastián erhob sich, um der Mestizin das Geschenk
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