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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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zu überreichen, wobei er bis an die Haarwurzeln errötete. Erneut lachten die Frauen. Dann erhob sich eines der Mädchen, das zu den Freundinnen aus Uminas Kindheit zu gehören schien.
    Es wurde still um sie herum, als sie eine
yaraví
anstimmte.
    »Caylla llapi   /​puñunqui   / Chaupituta   / samusac.«
    »Was bedeutet das?«, fragte Sebastián.
    »Das ist ein indianisches Liebeslied: ›Zum Abendlied   / wirst du schlafen./ Um Mitternacht,/ werde ich kommen‹«, übersetzte sie.
    |397| Das war das Zeichen, Gitarren, Andenflöten und Mandolinen zu holen. Es herrschte eine sehr ausgelassene Stimmung. Selbst der sonst so verschlossene Qaytu schien die angenehme Gesellschaft zu genießen.
    »Wer ist das hübsche indianische Mädchen neben Qaytu?«, flüsterte Sebastián Umina zu, als die Sonne langsam unterging.
    »Eine Jugendliebe. Aber komm, lass uns einen Spaziergang machen.«
     
    Sie stiegen zu den Ruinen von Huayna Cápacs Palast hinauf, von wo aus man um diese Tageszeit den besten Blick hatte. Die besondere Lage war genutzt worden, um dort einen Park mit Freitreppe, Myrtenhecken und einen in Marmor gefassten Teich zu errichten. In seiner Mitte befand sich das Grab von Uminas Vater. Es wirkte keineswegs düster. Und am wenigsten in diesem Augenblick, da vom Tal her das träge Läuten der Kuhglocken erklang und Geißblattduft emporstieg. Es schien eher, als feierte man eine Rückkehr zur Erde.
    »Deine Mutter hat mir erzählt, dass sie hier begraben werden möchte«, meinte Sebastián. »Jetzt verstehe ich, warum.«
    »Dieser Ort kommt dem Paradies am nächsten.«
    »Aber warum ist der Palast in einem solch desolaten Zustand?«, fragte er und deutete auf die Ruinen.
    »Seine Steine wurden dazu verwendet, im Tal Kirchen und Klöster zu errichten.«
    Da vernahmen sie auf einmal ein Geräusch.
    »Was war das?«, fragte der Ingenieur.
    Überrascht über die Angst, die er in den Augen der jungen Frau wahrnahm, drehte er sich um: Eine merkwürdig gebeugte Gestalt schlurfte, schweigsam wie ein Gespenst, zwischen den Ruinen umher. Sebastián wollte schon auf sie zugehen, doch Umina hielt ihn zurück.
    Dem steinalten Indio fehlte ein Auge, und in der Augenhöhle verlief eine lange Narbe. Sein runzeliges Gesicht wirkte dadurch und durch die vom Kokakauen angeschwollene Wange geradezu |398| grotesk. Er trug schäbige, vor Schmutz starrende Hosen aus Lamawolle.
    »Wer ist das?«, flüsterte Sebastián.
    »Ein Verrückter, der behauptet, die Ruinen zu bewachen. Er war schon alt, als ich noch ein Dreikäsehoch war. Bis heute flößt er mir schreckliche Angst ein, auch wenn es heißt, er sei harmlos. Komm, lass uns dort hinüber zum Teich gehen.«
    »Wie weit ist es von hier bis Ollantaytambo?«, fragte Sebastián.
    »Ungefähr vier Meilen. Wenn wir früh aufbrechen, können wir in den frühen Abendstunden dort sein.«
    Der Alte setzte sich auf einen herumliegenden Steinblock, der den Eingang zu den Palastruinen markierte, und holte einen Hammer hervor, mit dem er ihn zu bearbeiten begann. Er würdigte sie keines Blickes. Er drückte nur eine Heuschrecke platt, die sich neben ihm niedergelassen hatte, wobei er mit seinen dünnen, fleischlosen, vom vielen Kokakauen geschwärzten Lippen schmatzte. Als es Nacht wurde, verschwand er.
    Zu ihren Füßen erstreckte sich das Heilige Tal und über ihren Köpfen die unergründliche, tiefe Andennacht. Die Luft war so klar, dass man fast glaubte, die Sterne berühren zu können. Der Himmel war lichtüberflutet. Seine Sternbilder funkelten mit solcher Kraft, dass man verstehen konnte, warum die Inkas mit den Sternen, die ihnen so nahestanden wie die Landschaften und Tiere ihres Landes, so vertraut gewesen waren. Besonders deutlich war die Milchstraße zu sehen, gleichsam Spiegel und kosmische Entsprechung des Flusses Urubamba.
    »Jetzt verstehe ich, warum man sie mit einem Fluss vergleicht«, sagte Sebastián und zeigte auf ihr Spiegelbild im Wasserbecken.
    »Wehe denen, die einen Stern auf der Stirn tragen!«, sagte Umina und legte ihm ihren Finger zwischen die Augenbrauen.
    »Warum sagst du das?«
    »Das sagte meine Mutter immer zu mir, weil ich so eine Träumerin bin.«
    »Stimmt es, dass man bei deiner Geburt glaubte, du würdest keine Woche am Leben bleiben?«
    |399| »Ja, aber ich habe überlebt. Vielleicht, weil sich so viele Sternchen auf meine Augen setzten. Fast so viele, wie sich jetzt in diesem Teich spiegeln.« Sie zeigte auf die Sterne, die verschwommen auf der

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