Quipu
zurück. Trotz seines großen Einsatzes und Mutes gelang es ihm jedoch nicht, Cuzco einzunehmen, und so musste er sich nach einem Jahr Belagerung immer weiter zurückziehen, bis er sich schließlich in der Bergfeste Vilcabamba verschanzte. Der zwischen den Flüssen Apurímac und Urubamba gelegene Osthang der Anden war schwer zu bezwingen und durch enge Täler geschützt. Von diesem Bollwerk aus griff er die Spanier bis zu seinem Tode 1544 unaufhörlich an. Er hinterließ drei Söhne, die nacheinander seine Stelle einnahmen: Sayri Túpac, Tito Cusi und Túpac Amaru.
|122| Hier, mein lieber Sohn, in dieser Ahnenreihe sowie in der Gier der Spanier nach den versteckten Reichtümern der Inkas, findet sich der Ursprung, wenn nicht gar der Schlüssel zu dem, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist. Um die schwierige Geburt des nach Unabhängigkeit strebenden Peru nachvollziehen zu können, muss man nur die Erbfolgestreitigkeiten der Inkas mit den Bürgerkriegen der Spanier in Verbindung bringen, die sich in den letzten beiden Jahrhunderten in Peru um die Macht gestritten haben.
Auch nach Manco Cápacs Tod gaben die Inkas ihren Widerstand nicht auf. Sayri Túpac unterzeichnete zwar 1557 einen Friedensvertrag mit den Spaniern, worauf er sich in der Nähe von Cuzco im Yucay-Tal niederließ, das Huayna Cápac einst trockengelegt und besiedelt hatte, doch starb er schon vier Jahre später. Sein weitaus ehrgeizigerer Bruder Tito Cusi, der in den Anden geblieben war, weil er den Spaniern misstraute, erklärte sich zum neuen Inka und lehnte sich erneut gegen sie auf.
1569 kam dann der neue Vizekönig, Francisco Álvarez de Toledo, nach Peru und machte sich gleich auf eine Inspektionsreise durch das ganze Land. Er wollte nicht nur die örtliche Verwaltung neu organisieren, sondern sein neues Reich vor allem auch endgültig befrieden, mit welchen Mitteln auch immer. 1571 hatten die Inkas bereits fünfunddreißig Jahre lang von Vilcabamba aus Widerstand geleistet. Tito Cusi war ein Jahr zuvor gestorben, und sein Bruder Túpac Amaru hatte den Inkathron bestiegen …
Sebastián legte die Aufzeichnungen seines Vaters beiseite. 1571: Das war die Jahreszahl, die ihm auf der ersten Seite der Chronik ins Auge gesprungen war, als er sie zum ersten Mal durchgeblättert hatte. Hier also setzte die Erzählung des jungen Dolmetschers an, der den neuen Vizekönig auf seiner Inspektionsreise durch das Land begleitet hatte und mit ihm in die alte Inkahauptstadt gekommen war. Neugierig schlug er die Handschrift auf.
|123| Diego de Acuñas Bericht begann in einer Nacht, in der er gerade durch eine schmale Gasse in der Nähe der Plaza de Armas schlenderte, als er auf einmal großen Lärm vernahm. Schnell eilte er auf die Stelle zu, woher die Schreie kamen. Er erblickte ein paar Hellebardiere des Vizekönigs, furchteinflößende Haudegen, die eine junge Indiofrau umringten. Der Haltung und den groben Worten der grölenden Soldaten entnahm er, dass sie gerade die sogenannte »Umhangprobe« durchgeführt hatten, die darin bestand, einem jungen Mädchen mit einem eingerollten Umhang auf den Hintern zu schlagen. Hielt sie sich nach dem Schlag noch auf den Beinen, wurde sie als reif erachtet, einen Mann kennenzulernen. Kurzum, sie wollten sie vergewaltigen. Die Umhangprobe war im Fall der Indiofrau jedoch ein Scherz, denn obgleich sie eine sehr mädchenhafte Statur hatte, war sie längst erwachsen. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, als ginge es um ihr Leben, und brüllte auf Quechua, sie sollten sie loslassen, doch die Trunkenbolde antworteten nur mit schallendem Gelächter, sie solle mit ihnen gefälligst die Sprache der Christen sprechen.
Ohne lange zu überlegen, zog Diego sein Schwert und ging auf die Soldaten los. Verwirrt drehten sie sich zu ihm um, und der Erste machte schon Anstalten, auf ihn loszugehen, als er auf einmal erschrocken innehielt und torkelnd die Flucht ergriff, gefolgt von seinen Kameraden.
Diego steckte das Schwert wieder zurück in die Scheide und reichte der jungen Indiofrau die Hand, um ihr aufzuhelfen. Misstrauisch wich sie zurück und drückte sich gegen die Wand. Der Dolmetscher versuchte sie auf Spanisch zu beruhigen, sie entgegnete aber kein Wort, und so versuchte er es auf Quechua. Überrascht blickte sie ihn an, ihre Brust hob und senkte sich heftig, doch noch immer schwieg sie beharrlich, den Blick starr auf ihn gerichtet. Sie wirkte nicht wie eine gewöhnliche Indiofrau. Ein Anflug von
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