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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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und widmete sich erneut dem anstrengenden Entziffern von Diego de Acuñas Schrift.
     
    Der junge Schreiber des Vizekönigs berichtete nun, wie er in den folgenden Tagen stundenlang durch Cuzco streifte, um die junge Indiofrau zu finden. Seine Suche blieb jedoch vergebens, und um sie zu vergessen, stürzte er sich in seine Arbeit. Kurz zuvor hatte er einige Aufgaben seines Quechualehrers Cristóbal de Fonseca übernommen. So wurde er nun immer öfter als Dolmetscher für alle Angelegenheiten hinzugezogen, die die Indios betrafen.
    Dabei erregte eines Tages das Verhalten eines
curaca
seine Aufmerksamkeit. Der Kazike war gekommen, um Anklage gegen einen Spanier zu erheben, der sich dessen beste Felder einverleibt und ihn damit um sein rechtmäßiges Erbe gebracht habe. Er werde dies auch beweisen, ereiferte sich der
curaca
und wandte sich dann an seinen Begleiter, einen älteren Mann, der daraufhin ein paar bunte Schnüre mit unzähligen |127| Knoten hervorholte und, während seine Finger darüberglitten, Daten und Argumente aufzuzählen begann.
    Diego de Acuña maß der Beobachtung zunächst keine große Bedeutung bei. Einige Zeit später ging der Militärexpedition, der er angehörte, in einer noch unerforschten Gegend jedoch der Proviant aus, weshalb sie zu einem der prall gefüllten Vorratsspeicher der Einheimischen ritten. Während der verantwortliche Indio missmutig murmelte, dass die Inkas ihren Soldaten früher unter Androhung der Todesstrafe verboten hätten, die Speicher der Gebiete zu plündern, durch die sie kämen, übergab er ihnen einige Säcke Mais. Daraufhin löste er ein paar Knoten in einem Strick und knotete in einen anderen wieder dieselbe Anzahl. Interessiert fragte der junge Dolmetscher den Mann, warum er das tue, woraufhin dieser erklärte, er erfasse so sämtliche Ein- und Ausgänge der gelagerten Lebensmittel. Er sei ein
quipucamayo
, was so viel heiße wie »der mit Quipus umzugehen weiß«.
    Zurück in Cuzco, berichtete Acuña seinem Lehrer Cristóbal de Fonseca, was er erlebt hatte. Der Jesuit sah ihn lange an; er überlegte wohl, ob er ihm vertrauen konnte. Dann erklärte er ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass diese Quipus, wie die Schnüre mit den Knoten genannt würden, für die Indios eine Art Schrift seien; mit ihrer Hilfe könnten sie das, was sie über sich selbst und ihre Vorfahren wüssten, bewahren. Könne man diese Quipus »lesen«, offenbarten sich einem die tiefsten Geheimnisse der Inkas, das, was ihr riesiges Reich zusammenhalte: den Stammbaum der Inkaherrscher und ihrer Gefolgsleute, die historischen Ereignisse, die Zahl der Einwohner, Tiere und Soldaten, ihre Vorräte, die Erträge ihrer Felder   … Alles bis auf die letzte Sandale werde mit diesen Stricken festgehalten.
    Diego de Acuña machte ein ungläubiges Gesicht, aber Cristóbal de Fonseca wusste seine Zweifel zu entkräften: Er selbst hatte miterlebt, wie verschiedenen
quipucamayos
, die sich untereinander nicht kannten, ein paar Quipus vorgelegt |128| worden waren, und alle hatten sie auf dieselbe Art gedeutet. Die
quipucamayos
waren für die Inkaadligen und Kaziken also so etwas wie Archivare und Chronisten. Wenn es rechtliche Verhältnisse klarzulegen galt, konnten die
quipucamayos
die Besitztitel in einem Quipu genauso gut »nachlesen« wie ein spanischer Schreiber die Einträge in einem Grundbuch.
    Die Quipus könnten den Konquistadoren ernsthafte Probleme bereiten, wenn es um Land oder Minen gehe, bei denen große Reichtümer im Spiel seien, erklärte der Jesuit weiter. Und wenn sie beim Ermitteln der Eigentumsrechte schon eine so gewichtige Rolle spielten, dann natürlich erst recht, wenn es um die spanische Landnahme gehe. Deshalb hätten die Spanier begonnen, alle Quipus zu zerstören, deren sie habhaft werden könnten, schloss Cristóbal de Fonseca.
    Die Offenbarung seines Quechualehrers hatte Diego de Acuña neugierig gemacht. Und so begann er, die
quipucamayos
genau zu beobachten. Schon bald bewunderte er ihr außerordentliches Gedächtnis, die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der sie die Quipus lasen, ohne dass man hätte erklären können, wie sie das taten. Allmählich dämmerte ihm, dass es sich dabei um keinen Notbehelf von ein paar Wilden handelte, die des Schreibens nicht mächtig waren, sondern um ein ausgeklügeltes System, das der Schrift in nichts nachstand, und er begann von Herzen zu bedauern, dass die Spanier dieses Wissen nicht zu nutzen verstanden. Vor ihrer Nase erstreckte

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