Quipu
»weiterknüpfen« müsse. In diesem roten Quipu seien all ihre Geheimnisse enthalten, wie auch Manco Cápacs Vorkehrungen zum Erhalt ihrer Dynastie.
Sebastián sah auf. Er war müde und die Augen tränten vom angestrengten Lesen. Und dennoch war er erschüttert und fasziniert zugleich. Alles, was er über das Inkaimperium bisher zu wissen glaubte, stammte von den Chronisten der Eroberer. Doch das tatsächliche Leben der Indios, die Geschichte des Inkareiches war in den geknoteten Schnüren, diesen Quipus, enthalten. Quispi Quipus Erzählung zu folgen war, als betrachtete man die Rückseite dieses geknüpften Teppichs, als sähe man zu, wie er entstand.
Eine Weile sann er über all das nach, bis sich Sírax wieder in sein Bewusstsein drängte. Noch eine Frau, dachte er verwundert. Er nahm das Blatt mit dem Stammbaum zur Hand und schrieb ihren Namen darauf.
Und was beinhaltet dieser Plan des Inkas genau?, fragte er sich. Und was hat er mit dem zu tun, den sie jetzt, zwei Jahrhunderte später, den Jesuiten zuschreiben, diesen angeblichen Plan der |140| Gesellschaft Jesu, Spaniens südamerikanischen Kolonien zur Unabhängigkeit zu verhelfen? Zweifellos wusste der Drahtzieher der drei Morde darauf eine Antwort. Jedenfalls besaß er den Schlüssel zu dem Ganzen. Sebastián musste ihn ausfindig machen. Dazu musste er das Schiff aber noch näher erkunden, und das so bald wie möglich, solange noch niemand von ihm als blindem Passagier wusste. Zumindest glaubte er das.
|141| Die Zwickmühle
A m nächsten Tag beschloss Sebastián, sich zum Unterdeck hochzuwagen, auf dem sich mehrere Hellegatts, durch dünne Holzwände voneinander abgetrennte Kammern, befanden, in denen das Werkzeug des Kalfaterers, Böttchers und Zimmermanns sowie allerlei Schiffszubehör aufbewahrt wurden, sodass es dort sicher deutlich belebter zuging als im Laderaum. Er musste also äußerste Vorsicht walten lassen.
Der Ingenieur befand sich gerade neben dem Aufgang zum Bug, als er das Tappen kleiner, flinker Füße vernahm. Eilends verkroch er sich hinter ein paar Truhen, und kurz darauf sah er einen Jungen von ungefähr zehn Jahren mit einem Essenstablett in den Händen die Treppe herunterkommen.
Von seinem Versteck aus beobachtete Sebastián, wie er in Richtung Heck ging. Auf Höhe des Großmasts stieg er dann aber plötzlich über die dort befindliche Treppe wieder zum ersten Oberdeck hinauf. Hatte er es sich anders überlegt? Doch nein, kurze Zeit später kam er wieder aufs Unterdeck herab und wandte sich erneut Richtung Heck.
Das war so merkwürdig, dass der Ingenieur beschloss, ihm nachzuschleichen. Er kam jedoch nicht weit. Bald schon stand der Junge vor der ersten hölzernen Trennwand. Er klopfte, und kurz darauf erschien eine der Wachen der Pulverkammer und ließ ihn ein. Ob dahinter der geheimnisvolle Passagier einquartiert war, von dem die beiden Matrosen gesprochen hatten? Sebastián wollte lieber nicht warten, bis der Junge zurückkam, da er Angst hatte, nicht ungesehen in den Laderaum zurückkehren zu können.
|142| Wieder in seinem Versteck, machte er sich erneut an die Lektüre der Chronik.
Wie Quispi Quipu weitererzählte, versuchte sie, den Auftrag ihres Bruders Manco Cápac so gut wie möglich zu erfüllen. Sein Gesandter hatte ihr ans Herz gelegt, ihr Kind von aller Welt abgeschirmt in ihrem Haus in Cuzco aufzuziehen, wo nur Quechua gesprochen und die überlieferten Gebräuche der Inkas gepflegt werden sollten.
Bis zu diesem Augenblick hatte Quispi Quipu ihr Schicksal klaglos hingenommen. Doch nun hatte sie eine Tochter. Der Bischof von Cuzco redete ihr erneut zu, und dieses Mal willigte sie ein: Sie heiratete einen spanischen Soldaten, einen Witwer, der einen bereits erwachsenen Sohn in die Ehe mitbrachte. Er hatte nur ein Laster: das Spiel. Einige Zeit später gebar sie ihm ein Kind, das sie Pedro nannte nach dem Vater, der keine Ahnung hatte, dass Sírax die Frucht ihrer Verbindung mit Manco Cápac war; er hielt das Mädchen für eines der vielen Kinder aus der für ihn unüberschaubaren Familie seiner Frau oder der Dienerschaft.
Die Lage in Vilcabamba änderte sich nach dem Tod ihres Bruders Manco Cápac, dem dessen ältester Sohn Sayri Túpac nachfolgte. Da dem Vizekönig Quispi Quipus guter Charakter bekannt war, bat er sie, ihm zu helfen, mit ihrem knapp zwanzigjährigen Neffen Frieden zu schließen. Sayri Túpac unterzeichnete daraufhin 1557 einen Friedensvertrag und erhielt dafür ihre in der Nähe von
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