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Quipu

Quipu

Titel: Quipu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Vidal
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der noblen Fassade zusammengelaufen waren, wo sie sich um den Ausrufer der Stadt scharten. Einer der Umstehenden erklärte Acuña,man sei dabei,das Haus zu räumen. Die Versteigerung beinhalte Güter von beachtlichem Wert. Die Gerichtsdiener versuchten dies anscheinend schon seit Tagen, doch hätten sie nicht zur Tat schreiten können, da sich die Besitzerin mit ihren schwarzen Sklaven bis jetzt im Haus verschanzt habe.
    Der Ausrufer, ein Mestize, begann, die Aufstellung des Inventars herunterzuleiern. Auf einmal wurde es in der Gasse vollkommen still, denn die Tür ging auf. Heraus trat eine kleine, zerbrechlich wirkende Frau. Ihre indianischen Züge waren vom Alter gezeichnet. Sie hielt sich zum Schutz gegen die blendende Morgensonne die Hand vor die Augen, und als sie des Menschenauflaufs gewahr wurde, eilte sie an der Wand entlang davon. Weder an den Ausrufer noch an die Gerichtsdiener richtete sie ein Wort. Sie reagierte auch nicht auf die Hilferufe ihrer beiden Sklaven, die hinter ihr aus dem Haus getreten waren und auf der Stelle festgenommen wurden.
    Während die Versteigerung ihres Hab und Guts begann, sah Diego, wie die unscheinbare Gestalt sich im Gewühl einer Gasse verlor. Er lief hinter ihr her und fand sie unter den zerlumpten Bettlern wieder, die vor dem Portal der Kirche des heiligen Franziskus auf eine milde Gabe warteten.
    |135| Als er zu ihr trat, sah sie ihn mit ausdruckslosen Augen an. Der junge Schreiber sprach sie auf Quechua an. Die Augen der Frau leuchteten auf, es war jedoch nur ein kurzes Aufflackern. Sie schien überrascht zu sein, dass ein so junger Spanier ihre Sprache beherrschte, doch hüllte sie sich in Schweigen.
    Da zögerte der Dolmetscher nicht länger und zeigte ihr das rote Quipu.
    Schlagartig erwachte die Alte aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Beunruhigt fragte sie ihn, wo er es herhabe. Schnell steckte Acuña das Quipu wieder ein und sagte, das werde er ihr nur verraten, wenn sie auch seine Fragen beantworte.
    Die Frau zögerte. Sie wirkte verwirrt. Schließlich fragte sie ihn, ob er ein paar Tage zuvor eine junge Indiofrau vor spanischen Soldaten gerettet habe. Und als Diego hoffnungsvoll nickte, sah die Alte ihn durchdringend an. Sie schien seine Sehnsucht zu spüren, denn nun blickte sie sich um und gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass dies nicht der geeignete Ort für derlei Gespräche sei.
    Da half er ihr unter den neugierigen Blicken der Bettler auf. Er wollte Cristóbal de Fonseca um Hilfe bitten. Und in der Tat nahmen die Jesuiten die alte Frau auf.
    Nachdem sie sich mit einem Teller Suppe gestärkt hatte, erzählte sie dem jungen Schreiber ihre unglaubliche Geschichte. War es Diego anfangs nur darum gegangen, die Frau seiner schlaflosen Nächte zu finden, so kannte seine Überraschung keine Grenzen, als er erfuhr, wer diese zerbrechlich wirkende Alte war: Ihr Name war Quispi Quipu, und sie war Huayna Cápacs Tochter.
     
    Huayna Cápac: War das nicht der letzte, vor der Ankunft der Spanier regierende Inka? Der, der geträumt hatte, dass mit dem zwölften Inka das Reich seiner Vorfahren untergeht? Sebastián blätterte zurück, bis er das Blatt fand, auf das sein Vater den Stammbaum der Inkas gezeichnet hatte, und schrieb ihren Namen dazu, um nicht den Überblick zu verlieren:

    Jetzt kommen also die Frauen ins Spiel, sagte sich der Ingenieur und beugte sich voller Neugier wieder über die Chronik.
     
    Ihr Name Quispi Quipu, »freier Knoten«, war kein Zufall, ebenso wenig wie der ihres großen Bruders Huáscar, der auf Quechua »Kette« bedeutete, in Anspielung auf die ungeheure Schlange aus goldenen Kettengliedern, die Huayna Cápac hatte schmieden lassen. Da die männlichen Mitglieder der Familie das Land in unzählige Gemetzel stürzten, hoffte der Vater damals vielleicht für die Tochter, dass sie ihren eigenen Weg ging.
    Als Francisco Pizarro gegen Cuzco marschierte,erklärte die alte Frau mit leiser, apathischer Stimme, sei sie gerade einmal zwölf gewesen. Damals wäre sie noch keinen Repressalien ausgesetzt gewesen, wohl weil sie noch so zarten Alters war und Pizarro zudem ihren dritten Bruder Manco Cápac auf den Thron gesetzt hatte, den er als Marionettenherrscher zu benutzen gedachte. Doch dann hatten sie miterleben müssen, wie die Spanier die Hauptstadt der Inkas plünderten, den »Nabel der Welt«, wie Cuzco in ihrer Sprache hieß, und wie sie ihre prachtvollen Paläste und Tempel niederrissen, um aus den Steinen ihre Herrenhäuser, Kirchen

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