Rabenblut drängt (German Edition)
Stiftung. Das ist dein Erbe!«
Ich war aufgesprungen und hatte den Mund geöffnet. Das, was ich zu sagen versucht war, würde ihr nicht gerade schmeicheln. Sie stand vor mir wie ein wahrer Feldherr und machte ihrem Spitznamen damit alle Ehre. Aber sie war so klein! Ihr Kopf reichte mir gerade einmal bis zur Brust, trotzdem hatte sie eine innere Kraft, die für fünf Männer ausreichte. Ihr Körper war knochig und alt. Ich kannte sie gar nicht anders als alt. Und doch gab es keinen Menschen auf der Welt, dem ich mehr vertraute als ihr. Bisher.
Ich klappte den Mund wieder zu, zählte langsam bis zehn und dann weiter bis fünfunddreißig, bis ich spürte, wie der Puls, der mir im Halse pochte, sich verlangsamte und mich besser atmen ließ.
»Nun«, sagte ich leise. »Du hast immer getan, was du für richtig hieltest, nicht wahr?«
»So ist es.«
»Das muss ich auch tun. Du wirst sicher verstehen, dass ich deine Eröffnung erst einmal verdauen muss. Ich werde zurückgehen!«, sagte ich tonlos.
»Bitte bleib hier.«
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor eine Bitte von ihr gehört zu haben. Alle Spannung war aus ihrem Körper gewichen, sie schwankte.
» Babička «, sagte ich sanft und griff nach ihrem Arm, um sie zu meinem Sitzplatz zu führen, und sie ließ sich kraftlos hineinfallen. Ich kniete mich vor sie und hielt ihre knochige Hand fest. Sie war eiskalt.
»Ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir! Aber es gibt jemanden, mit dem ich sprechen muss. Jemand, der mir sehr viel bedeutet, und von dem ich gerade erst erfahren habe, dass ich ihr auch etwas bedeute.«
Ich schluckte mühsam. »Es ist das erste Mal, dass ich glaube, dass ich auf eine Zukunft hoffen darf. Dass ich die Gewissheit habe, dass es Sinn hat, obwohl ich nicht weiß, wie es ausgehen wird. Eigentlich ist es das erste Mal, dass es mir vollkommen egal ist, wie es ausgehen wird! Ich will keine Rücksicht darauf nehmen, verstehst du? Ich will es einfach nur erleben! Nur leben!«
Es war sinnlos nach weiteren Worten zu suchen.
Der General drückte meine Hand. »Das war sehr ehrlich von dir. Ich danke dir dafür! Und ich verstehe dich, aber bitte vergiss nicht, dass du auch Verantwortung trägst gegenüber deiner Familie und deiner Herkunft! Vielleicht wirst du mich einmal besser verstehen, wenn du selbst Kinder hast. Vielleicht siehst du in deinem Erbe dann auch noch etwas anderes als nur eine Belastung. Es bedeutet auch Freiheit.«
Ich erhob mich langsam. Was wusste der General schon von Freiheit?
Aber ich würde die Verantwortung, an die sie mich erinnert hatte, nicht vergessen.
Ihr kritischer Blick hielt mich weiterhin gefangen. »Bist du eigentlich immer noch mit diesem Nikolaus befreundet? Mit dem Bruder dieser Russin?«, fragte sie mich unerwartet.
»Ja.«
»Ich habe ihn heute Abend zum ersten Mal gesehen. Sein Gesicht erschien mir so bekannt, aber ich kam nicht darauf, woher bloß.« Sie räusperte sich, und ich meinte förmlich zu riechen, wie ihr Schweiß aus den Poren strömte. Aber sie war doch niemals nervös, dachte ich und suchte ihr Gesicht ab.
»Eigentlich wollte ich dir etwas zeigen, etwas dass deinen Vater betrifft. Dabei habe ich durch Zufall entdeckt, warum mir sein Gesicht so bekannt vorkommt.«
Ich beugte mich interessiert vor.
»Ich werde es dir zeigen.« Sie erhob sich schwerfällig, kein Vergleich zu der kämpferischen Frau, die mir eben die Pistole an die Brust gesetzt hatte. Sie holte einen Schuhkarton aus ihrem Schreibtisch und nahm den Deckel ab. Darin befanden sich unzählige alte Fotos und ausgeschnittene Zeitungsartikel.
»Das meiste davon gehörte deinem Vater. Aber nach seinem Tod - einige Sachen habe ich dazugetan«, erklärte sie.
Ich sah ein bekanntes Foto meines Vaters auf einer Zeitungsseite vom neunten Februar 1991. Es war der Bericht über den tödlichen Unfall, den er bei seiner Arbeit im Forst erlitten hatte.
»Die Fotografie, an die ich mich erinnerte, ist diese hier!« Sie zog ein Farbbild heraus, auf dem mehrere junge Männer standen. Nach der Kleidung zu urteilen, war das Bild aus den Achtzigerjahren. Ich kannte darauf nur das Gesicht meines Vaters - mein Spiegelbild, nur seine Haare waren kürzer als meine.
»Das waren alles Freunde deines Vaters«, erklärte sie. »Hier, in der hintersten Reihe ist Milos Vater Jaromir und daneben, das sind Zdeněk, Georg und Franz. Ich kenne nicht alle, aber einige davon gehörten zu uns bekannten Familien. Die meisten davon sind heute schon
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