Rabenblut drängt (German Edition)
wenn sie freundlich guckte.
»Ja, babička «, sagte ich liebevoll und ihre Augen nahmen einen milden Ausdruck an. Sie legte ihre Brille auf dem Schreibtisch ab. Ihre Hände waren mit zahlreichen Altersflecken übersät und die Gelenke arthritisch verdickt.
»Du siehst müde aus«, sagte ich.
»Das bin ich auch. Nicht nur heute. Im Allgemeinen bin ich es müde, mich um dich zu sorgen.«
Ich hob eine Augenbraue an. Ich hatte mich viele Jahre von ihr ferngehalten, damit sie sich eben nicht sorgen musste. Vielleicht sogar, damit sie überhaupt nicht mehr an mich dachte.
»Du weißt, dass das völlig unnötig ist, nicht wahr? Ich habe nicht vor, etwas zu tun, oder zu offenbaren, was deinem Namen Schande bereiten würde.«
Sie winkte schnaubend ab und ließ sich erschöpft in den Sitz zurücksinken.
» Mein Name? Du vergisst, dass es auch dein Name ist.«
»Das vergesse ich nicht, aber in meiner Gesellschaft gebrauche ich ihn gewöhnlich nicht.«
»Das ist es ja gerade!«, sagte sie und beugte sich vor. »Deine Gesellschaft! Wann endlich hast du vor, deiner Gesellschaft den Rücken zuzukehren? Meinst du nicht, dass acht Jahre ausreichend lang waren, um darüber hinwegzukommen?«
Ich ließ mich entspannt in einen lederbezogenen Sessel fallen und schlug die Beine übereinander. Dieses Gespräch würde ein längeres werden.
»Worüber hätte ich denn hinwegkommen sollen?«
»Da gibt es mehrere Punkte«, hob sie an und legte die Fingerspitzen aneinander.
»Nenn mir einen !«
»Zum Beispiel den, dass ich dir neunzehn lange Jahre verschwiegen habe, was du bist.«
»Das kannst du getrost abhaken. Ich habe dir bereits verziehen«, erwiderte ich knapp.
Der General hielt inne. Anscheinend hatte sie mit dieser Antwort nicht gerechnet, und vermutlich war dies der eigentliche Punkt, der sie beschäftigte.
»Bist du denn darüber hinweggekommen?«
Ihre Augenlider flatterten nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie hätte ebenso gut einer von uns Raben sein können, so gut hatte sie sich unter Kontrolle.
»Ich habe es zu deinem Besten getan.«
»Ich weiß.«
»Ich wollte, dass du ohne dieses Damoklesschwert über dir erwachsen werden kannst. Und außerdem hatte ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es dich vielleicht gar nicht treffen würde. Es war schließlich nicht die richtige Zeit für Revolutionäre.«
»Da kann ich dich beruhigen, so war ich nie. Weder so gewalttätig noch so aufrührerisch. Allenfalls kannst du mich einen Revolteur nennen«, bot ich ihr an.
»Du bist ein ausschweifender Mensch! Du denkst mehr an deine persönliche Freiheit, als an das Offizium deiner Familie!«
»Dir und deinem Mann wurde doch jegliche Dienstpflicht entzogen, warum also sollte ich mich da verpflichtet fühlen?«
» Libertin! «, schimpfte sie und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Das nahm ich als Kompliment, lächelte und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Spar dir deinen Charme!«, grollte sie.
»Kommen wir zum nächsten Punkt! Worüber hätte ich, deiner Meinung nach, auch noch längst hinweg sein sollen?«
»Darüber, dass diese wirklich unangenehme Person - diese Russin - dich abgewiesen hat. Ich finde es übertrieben, aus einem solchen Grund Jahre deines Lebens im Wald zu verbringen!«
»Darüber bin ich hinweg.«
Ihre Augen glitzerten gefährlich. Als Rabe hätte sie einem wirklich Angst einjagen können. Man wusste bei ihr nie, von welcher Seite die Attacke zu erwarten war.
»Nächster Punkt!«, sagte ich knapp, weil ich es hinter mich bringen wollte.
»Nun gut.« Ihr Gesichtsausdruck schien auf einmal bekümmert. Mir grauste vor ihren nächsten Worten. Nein - ich wollte gar nicht hören, was sie zu sagen hatte. Aber da ich mir schwerlich die Ohren zuhalten konnte, wappnete ich mich innerlich.
»Du solltest inzwischen darüber hinweg sein, dass deine Mutter dich verlassen hat!«, sagte sie.
Ebenso gut hätte sie mich kopfüber durch das Loch eines zugefrorenen Sees werfen können. Mir blieb beinahe sofort die Luft weg.
»Ich habe schon lange nicht mehr darüber nachgedacht«, behauptete ich, während ich meine rechte Hand so fest zur Faust zusammenpresste, dass es schmerzte.
»Lügner!«, kam es grausam von ihren Lippen. »Du denkst jeden Tag deines Lebens darüber nach! Du fragst dich, warum sie dich nicht mitgenommen hat. Warum nur deine Schwestern. Du fragst dich, ob sie dich nicht geliebt hat und ob sie vielleicht Angst vor dir hatte.«
Jetzt konnte ich es
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