Rabenblut drängt (German Edition)
sich nie untersuchen lassen. Mein Großvater - das war eine andere Zeit, damals gab es diese Untersuchungsmethoden noch nicht.«
»Wie alt war dein Vater eigentlich, als er starb«, fragte sie unvermittelt.
Ich musste keine Sekunde überlegen. »Zweiundvierzig.«
»Und dein Großvater?«
»Dreiunddreißig.«
»Was? Dein Opa ist nur dreiunddreißig Jahre alt geworden?«
»Er starb während seiner Zwangsarbeit im Uranabbau. Er war gesundheitlich angegriffen und die Winter waren kalt. Meine Großmutter durfte ihm keine Kleidung oder Decken bringen. Und selbst wenn sie es gedurft hätte, sie hatte keine. Sie hatte selbst nur das, was sie auf dem Leibe trug.«
»Wie alt war dein Vater damals?«
»Er war noch ein Säugling.«
»Aber -« Sie schien ehrlich entsetzt. »Und was ist mit deinem Urgroßvater?«
»Weißt du etwa, wie alt dein Urgroßvater geworden ist?«, fragte ich sie zweifelnd.
»Nein«, musste sie zugeben.
»Also gut.« Ich seufzte. »Wann soll ich beginnen? Reicht es nach dem Dreißigjährigen Krieg?«
»Du machst dich über mich lustig!«
»Nein, überhaupt nicht. Wenn du es hören willst, kann ich dir auch die Daten bis 1362 aufsagen. Allerdings nur die männliche Linie, in meinem Fall auch die entscheidende.« Ich grinste.
»Ich nehme an, nach Christus?«
Das war eine so freche Bemerkung, dass ich mich dazu veranlasst sah, sie zu küssen, damit sie den Mund hielt.
»Moment!«, keuchte sie. »Sag - sag mir einfach, wie alt dein Urgroßvater geworden ist, ja?«
»Neunundzwanzig.«
»Das ist ja furchtbar!« Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht.
»Das ist gar nicht so furchtbar, wenn du bemerkst, dass die Tendenz eindeutig steigend ist.« Selbst für mich klang meine Stimme zynisch. Isabeau nahm ihre Hände herunter und sah mich böse an.
»Und wie viel Zeit bleibt dir dann noch?«, fragte sie. »Muss ich mich jetzt darauf einstellen, dass es jeden Tag so weit sein könnte?«
»Wenn es nach mir ginge, selbstverständlich nicht. Ich weiß nicht warum, vielleicht liegt es an der guten Luft hier, aber irgendwie hänge ich am Leben.«
Sie boxte mich in die Seite.
»Ich habe nicht vor, mich von einem Baum erschlagen zu lassen, noch muss ich für irgendeine Tat ins Gefängnis. Allerdings befürchte ich, ernsthaft in Gefahr zu geraten, wenn ich dir gestehe, dass ich gleich noch nach Prag zurück muss.«
Sie schmiegte sich an mich und diese Berührung schwächte mich.
»Und wenn ich dich nicht gehen lassen will?«
»Dann verschiebe ich das Ganze«, antwortete ich so schnell, dass sie unwillkürlich lachen musste. »Du kannst mich haben. Ich habe keinen Willen mehr, wenn du mich so anschaust. Und es fühlt sich einfach paradiesisch an. Du fühlst dich so an. Sagte ich paradiesisch? Nein, elysisch trifft es genauer. Aber ich muss wirklich mit Nikolaus reden. Ich habe etwas von meiner Großmutter erfahren, das von größter Wichtigkeit sein könnte.«
Dann erzählte ich ihr von den Bildern und den Zeitungsausschnitten, die der General aufgehoben hatte.
»Und jetzt befürchtest du, dass Nikolaus dir etwas verschwiegen haben könnte?«
»Niemals! Ich vertraue ihm vollkommen.«
»Ich fragte, ob du es befürchtest, nicht ob du es erwartest!«, wiederholte sie sanft.
»Ja.« Und der Gedanke brannte sich wie durch ein Brennglas in mein Gehirn.
»Dann musst du mit ihm reden. Am besten sofort.«
»Und was wirst du in der Zeit tun?«
»Arbeiten?«
»Natürlich.« Es fiel mir immer noch schwer, in diesen menschlichen Dimensionen zu denken. Bisher hatte ich mich weder um Wochentage noch Stunden oder gar Minuten kümmern müssen. Jahreszeiten waren das Einzige, was für mein Leben relevant war.
»Soll ich dir vorher noch etwas zu essen aus der Küche holen? Du willst doch bestimmt nicht ohne Frühstück los?«
»Ich werde mich unterwegs versorgen.«
»Ach so.«
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wenn du nicht sehen möchtest, wie ich mich verwandle, dann musst du jetzt die Augen schließen.«
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Und wenn ich es sehen will? Ist es irgendwie schlimm? Hättest du etwas dagegen?«
Ich schluckte. Ich hatte sie ein Hasenherz genannt, aber eigentlich war ich sogar froh gewesen, dass sie es nicht gesehen hatte. Ich befürchtete, dass es sie anwidern könnte. Es war schließlich etwas gänzlich anderes, nur davon zu wissen, als es leibhaftig zu sehen.
»Nikolaus findet es etwas unangenehm«, gab ich vorsichtig zu bedenken.
»Ach
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