Rabenblut drängt (German Edition)
er im kalten Morgendunst, ohne eine Regung, ohne durch die Wucht seiner Landung auch nur einmal ins Schwanken gekommen zu sein. Er lächelte und musterte mich von oben bis unten.
Ich räusperte mich und zwang mich zu sprechen. »Gehörst du zu Alexejs Schwarm?«
»Bis eben noch.« Seine Stimme war dunkel. Es war eine Stimme, die eigentlich zu einem älteren Mann gehörte. Vielleicht war seine Kehle aber auch nur ausgedörrt, denn er leckte sich über die Lippen.
»Ich bin Sergius«, sagte er.
Rachedurst
I ch warf keinen Blick zurück. Ich wollte nicht sehen, wie sie sich entsetzt von mir abwandte. Es war kein schöner Anblick. Auch wenn sie sagte, sie sei nicht empfindlich, wusste ich doch, dass es nur schwer zu ertragen war. Ich wollte mir dieses Glücksgefühl, das mich erfasst hatte, noch etwas länger erhalten. Es war der Wind unter meinen Flügeln.
Ich gönnte mir nur wenige Pausen. Je eher ich dieses Gespräch hinter mich bringen würde, umso besser. Vielleicht würde Nikolaus’ Vater ein ganz anders Licht auf die Ereignisse werfen. Er war einer der wenigen Männer, wenn nicht gar der Einzige auf diesem alten Foto, der noch lebte. Er konnte etwas wissen, das uns bisher entgangen war. Es musste ein Zusammenhang bestehen zwischen den Geschehnissen von damals und heute. Ich erinnerte mich daran, was dieser aufdringliche Mann am Konzertabend über meinen Vater gesagt hatte:
Hat sich viele Feinde gemacht, damals. Und manche davon haben ein gutes Gedächtnis.
Aber warum spielte das noch eine Rolle, nachdem mein Vater schon zwanzig Jahre tot war? Auch machte es keinen Sinn, wenn ich mich in der Öffentlichkeit zeigte, und damit nur Drohungen hervorrief. Ich wollte Forderungen hören, wollte endlich wissen, warum man uns jagte, und diese Jagd beenden.
Als ich Prag erreichte, war es immer noch früh am Tag. Ich hatte unterwegs Reste eines Igels zu mir genommen und verspürte keinen Hunger. Katharina öffnete mir ein Fenster und ließ mich allein, damit ich mich anziehen konnte. Ich knöpfte mir das Hemd zu und war gerade dabei, meine Schuhe zuzubinden, als die Mädchen wiehernd hereingaloppiert kamen.
»Alexej!«, kreischte Marina und sprang mir freudig auf den Schoß. Ihre kleine Schwester wollte es ihr nachmachen, quietschte und prallte gegen mein Bein. Sofort verzog sich ihr Mund zu einem Weinen. Ich hob sie lachend hoch und küsste sie überschwänglich.
»Nicht weinen, Karola! Du bist doch kein Rennpferd, wie deine Schwester. Du bist vielmehr ein wunderschönes Dressurpferd, mit lauter bunten Bändern in der Mähne und einer goldenen Rosette am Halfter.«
Sie kicherte und kuschelte sich an mich. Sehnsüchtig wurde mir bewusst, wie sehr kleine Kinderarme einen wärmen konnten.
»Du wirst sentimental«, sagte Katharina. Sie war hereingekommen und stellte eine Kanne mit dampfendem Kaffee auf den Tisch.
»Sieht man mir das an?«
Sie nickte. »Je älter Männer werden, umso sensibler werden sie. Nikolaus bekommt mittlerweile schon feuchte Augen, wenn in der Kirche der Kinderchor singt. Warte noch zehn Jahre, dann bist du völlig hinüber, sobald es ein wenig feierlich wird!«
»Er geht mit euch in die Kirche?«
»Weil ich ihn dazu zwinge.« Sie schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. »Ich nehme an, du trinkst ihn rabenschwarz?«
»Wie kommst du bloß darauf?«, fragte ich augenzwinkernd. »Aber zuerst muss ich mit Nikolaus sprechen. Schläft er noch?«
»Er musste früh fort. Sein Vater hat angerufen und irgendwas von einem neuen Projekt erzählt. Sie wollten sich heute Vormittag treffen.«
»Weißt du wo?«
»Ist es so wichtig? Soll ich dich hinfahren?«
Ich wollte schon dankend ablehnen, aber dann fiel mir ein, dass es wesentlich sinnvoller wäre, nicht als Rabe hinzufliegen, sondern mich ausnahmsweise einmal wie ein Mensch fortzubewegen.
Katharina lenkte den Škoda aus der Einfahrt.
»Ich habe mich gefragt ...«, sie machte eine Pause. »Wie ist das eigentlich zu fliegen? Wie fühlt man sich dabei?«
»Kannst du fliegen, Alexej?«, kam von hinten Marinas kreischende Stimme. Katharina drehte sich für einen Sekundenbruchteil um, und der Blick brachte ihre Tochter sofort zum Schweigen.
»Angenehmer als Autofahren ist es jedenfalls. Wohin fahren wir eigentlich?«
»Es ist noch ein gutes Stück. Etwa fünfunddreißig Kilometer von hier, nach Mělník.«
»Ich dachte immer, Nikolaus’ Vater arbeitet in der Medienbranche? Interessiert er sich neuerdings für
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