Rabenblut drängt (German Edition)
füllte die Lücke aus, die der Tod seines Bruders gerissen hatte. Mit seiner witzigen, jungenhaften Art machte er sich bei den anderen Gefährten beliebt, wurde unser aller kleiner Bruder. Er scherzte, reizte uns mit haarsträubenden Flugmanövern und spielte mit Vorliebe die Laus im Pelz, die einen juckte.
Wir waren jetzt wieder ein ansehnlicher Schwarm und würden für andere angreifende Vögel eine unüberwindliche Abwehr bilden.
Gestern Morgen hatte auch Arwed den Weg zurückgefunden. Allerdings war es kein freudiges Wiedersehen, seine Ankunft wurde von dem überschattet, was er von Zuhause berichten musste.
Arwed hatte sich verändert.
War er schon vor dem Tod seines Vaters ein starker, kämpferischer Charakter gewesen, zeigten nun sogar seine Vogelzüge einen drohenden Ausdruck. Seine Augen hatten den typischen Blick von denen, die zuviel gesehen hatten. Wenn er krächzte, tat er es einige Nuancen tiefer als zuvor und seine Kehlfedern spreizten sich beunruhigend ab.
Ohne Hast, aber auch ohne Genuss, verspeiste er seinen Anteil eines Eichhörnchens, als ginge es nur darum, für irgendein entferntes Ziel bei Kräften zu bleiben.
Ich kannte dieses Ziel.
Auch wenn er bisher kaum gesprochen hatte, las ich doch in ihm. Schließlich war er nicht der Einzige von uns, der seinen Vater verloren hatte. Aber als Einziger war er alt genug, um sich in Rachegedanken suhlen zu können.
Raban war sieben Jahre alt gewesen, als sein Vater durch einen herabstürzenden Dachziegel erschlagen worden war, Milo sogar erst vier. Sein Vater war auf seinem Fußweg zur Arbeit von einem Auto erfasst worden.
Als man meinen Vater im Wald fand, den Schädel durch einen Baumstamm gespalten wie die harte Schale einer Kokosnuss, war ich sechs gewesen. Meine hilflose Wut hatte sich gegen keine bestimmte Person richten können, also hatte ich lernen müssen, damit zu leben. Lernen müssen, diesem Gefühl zu misstrauen und keine trügerischen Hoffnungen hineinzulegen. Das Löschen des Rachedurstes konnte eine verletzte Seele nicht heilen.
Arwed putzte sein Gefieder und András hüpfte flink zu uns herüber, um nach dem verbliebenen Rest Fleisch zu schnappen. Mein Gefieder sträubte sich, und András ließ den Fleischbrocken fallen.
»Du hast bestimmt noch Hunger«, sagte ich und bot Arwed mit einem kurzen Nicken dieses Stück an. Er nahm es ohne ein Wort und würgte es sofort hinunter.
»Ich muss dich etwas fragen«, warnte ich ihn vor. »Deine Familie ist erst vor einem Jahr wieder nach Tschechien gekommen. Stimmt das?«
Er nickte.
»Ich schätze euren Familienbesitz auf zwanzigtausend Hektar - vor der Bodenreform. Könnte das hinkommen?«
»Plus minus ein paar tausend vielleicht.« Arweds Gesicht zeigte eine leichte Verwirrung.
»Deine Großeltern hatten ein Landgut und ein Schloss in Melník, nicht wahr?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Das erfährst du sofort«, beruhigte ich ihn. »Sicher haben deine Eltern Anspruch auf Restitution geltend gemacht, Anfang der Neunziger.«
»Das stimmt. Aber er wurde abgelehnt, weil die nötigen Forstkarten und Grundbuchauszüge nicht auffindbar waren. Sie konnten keinen Nachweis darüber erbringen, welchen Umfang die Ländereien genau hatten. Und außerdem zweifelte man das Datum der Enteignung an.«
Ich nickte, denn das hatte ich schon von anderen Familien gehört. »Man behauptete also auch bei euch, dass die Enteignung vor dem 25. Februar 1948 stattgefunden habe, damit ihr keinen Anspruch auf Entschädigung geltend machen könnt. Und damit hat sich dein Vater zufriedengegeben?«
»Zuerst schon. Seinem Vater zuliebe. Mein Großvater fand dieses Ringen um den ehemaligen Besitz würdelos. Aber vor zwei Jahren ist er gestorben.«
»Vermutlich hat dein Vater die Mühlen wieder in Gang gebracht.«
»Was willst du damit sagen?«
Ich glättete mein Gefieder, um kein Anzeichen von Dominanz zu zeigen.
»Es ist nur eine Vermutung«, sagte ich. »Es wäre immerhin möglich, dass sich die Einstellung deines Vaters nicht mit der deines Großvaters gedeckt hat. Vielleicht sind die fehlenden Grundbuchauszüge durch irgendeinen Zufall wieder aufgetaucht. Vielleicht konnte er beweisen, dass die physische Durchführung der Enteignung tatsächlich erst nach 1948 stattgefunden hat.« Ich veränderte meinen Ton. »Vielleicht aber auch nicht. Könnte auch ein dummer Zufall sein, und dein Vater ist in einen wild umherirrenden Lkw gelaufen.«
»Du weißt genau, dass das Schwachsinn ist!«, rief Arwed
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