Rabenblut drängt (German Edition)
mir drängte danach sie zu berühren, alles in mir kämpfte.
Aber es war ein aussichtsloser Kampf. Denn wenn ich mich ihr offenbarte, wie konnte sie anders reagieren, als voller Abscheu?
Was sollte ich ihr sagen? Dass ich niemals fort gewesen war? Dass ich die ganze Zeit über hier war, in ihrer Nähe? Dass ich ein Rabe war? Ein Aasfresser? Eine Missgeburt? Dass nur eine Hälfte von mir menschlich war und ich zeitweise nicht einmal kontrollieren konnte, welche Hälfte die Oberhand behielt?
Sie würde mich dafür hassen. Alles andere wäre Wahnsinn. Welche Frau würde solch ein Opfer bringen? Meine Mutter hätte es nicht erbracht, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Doch mein Vater hatte vorgezogen, es ihr zu verheimlichen.
Wo ist er?
Auf diese Frage konnte ich ihr keine Antwort geben. Denn wenn sie das Geheimnis kannte, würde ihr Schmerz kein geringerer sein.
Isabeau streckte die Hand nach mir aus. Wie sehr ich mich danach sehnte, von ihr berührt zu werden! Es war wie ein Sog, dem ich nicht entkommen konnte. Ein Strudel, der mich eingefangen hatte, umherwirbelte und mitriss. Ich kletterte auf ihren Arm und meine Füße krallten sich an ihrer Jacke fest.
Was ich hier tat, war einfach absurd. Kein normaler Rabe würde sich so zutraulich verhalten.
Sie hob mich hoch.
»Weißt du, wo Alexej ist?«, wiederholte sie ihre Frage sanft.
Mein Herz gab ihr die Antwort, aber es war eine, die sie nicht hören konnte. Es pulsierte immer stärker in meiner Brust. Langsam und kräftig und absolut nicht wie ein Vogelherz. Es wuchs und breitete sich aus.
Meine Kehle wurde mir eng. Mir blieben nur noch wenige Augenblicke, wenn ich mich nicht vor ihren Augen verwandeln wollte. Ich grub den Schnabel in ihr Haar. Der Geruch ließ mein Menschenblut bis in die allerkleinsten Kapillaren fließen, drohte meinen Körper zu sprengen. Ein unterdrückter Schrei brach aus mir heraus und ich stieß mich mit gewaltiger Kraftanstrengung von ihr ab.
Nur fort von hier! Ich schaffte es gerade, mich hinter einen Baumstamm zu retten, bevor mein Rabenkörper zerbrach und ich auf die Knie fiel.
Ich hörte sie. Das Rascheln, als sie ihren Rucksack aufnahm, ihre Schritte, die sich nur zaghaft fortbewegten, als müsste sie sich erst sammeln. Ich krallte mich mit den Fingernägeln in der Baumrinde fest. So fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten und meine Finger fast taub wurden. Sie war nur wenige Meter von mir entfernt. Wenn sie auch nur einmal in meine Richtung blicken würde, musste sie mich entdecken. Denn der Baum, hinter dem ich hockte, war viel zu schmächtig, um mich ganz zu verbergen.
Ich stieß mit dem Kopf gegen den Stamm, um jeden weiteren Gedanken aus mir herauszuschlagen - wieder und wieder.
Nicht denken, Alexej! Nicht denken und bloß nicht hadern!
Aber wie sollte ich nicht hadern, wenn mein Schicksal durch mein Blut besiegelt war? Ein unerwartet heftiger Zorn belebte mich. Ich wollte mich nicht so in mein Schicksal ergeben. Und ich wollte mich verdammt nochmal nicht länger verstecken müssen!
Arwed hatte völlig recht: Wir hockten hier, während unsere Väter, einer nach dem anderen, hingerichtet wurden. Und das auf heimtückischste Art und Weise. Und wie recht er hatte!
Dieses Warten auf den Tod war eine Qual. Aber noch unerträglicher war es, nicht wirklich zu leben! Ich rannte los. Ich achtete nicht auf den Weg, lief schneller, riskierte keinen Seitenblick, sondern sah nur mein Ziel vor Augen. Mehr und mehr beschleunigte ich mein Tempo, wich den Bäumen aus und warf mich bei der nächsten Gelegenheit hoch in die Luft.
Ich flog einen großen Bogen über den Wald. Isabeau stand weit unter mir, die Augen mit der Hand abgeschirmt, und sah mir nach.
Ich trieb mich selbst vorwärts. So viel Kraft floss durch meinen Körper, dass ich gar nicht fähig gewesen wäre, innezuhalten. Ich ließ die Wälder hinter mir, die Seen, die Berge. Einfach alles zog in verschwommenen Bildern unter mir vorbei. Als hätte jemand eine Flut Wasser über ein frisch gemaltes Bild gegossen.
Meine Flügel peitschten durch die Luft. Ich erreichte die Stadt, mit ungebrochener Ausdauer und ungebrochenem Zorn.
Geschickt umflog ich alle Hindernisse, schwang mich an der Fassade von Nikolaus’ Haus empor und krachte mit gewaltigem Schwung gegen die Fensterscheibe. Das Glas splitterte, und ich brach durch die Scherben ins Innere.
Ich hörte ein Kreischen, als ich mich zu meiner vollen menschlichen Größe aufrichtete. Nikolaus war aufgesprungen,
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