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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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bremste sich rechtzeitig, denn dieses Detail wußte er einzig von Olga. Wahrscheinlich habe Annette mehr erfahren als er, sagte er, Markus scheine ja Zeit für ein Schwätzchen gehabt zu haben.
    Beide rührten im Tee.
    Annette wagte schließlich einen weiteren Vorstoß. Eine seltsame Bemerkung von Markus könne sie nicht recht deuten. Sinngemäß - aber nicht wörtlich - habe er behauptet, Olga gegenüber kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, weil .
    Paul reagierte wie erwartet. Er ließ den Löffel fallen, sah sie scharf an und tat so, als verstehe er nichts. Annette zuckte mit den Schultern und gab zu bedenken, daß Olga vielleicht ebenfalls einen Lover gefunden habe.
    Pauls gereiztes Quatsch klang fast so, als fühlte er sich angegriffen.
    Am nächsten Arbeitstag erfuhr Annette bereits an der Pforte von einem aufgeregten Mitarbeiter in weißem Schutzanzug, daß die hydraulische Preßvorrichtung des brandneuen Quarkfertigers defekt sei. Was geht das mich an, dachte sie, dann läuft die Produktion eben nur mit halber Kraft. Aber sie war trotzdem leicht beunruhigt.
    Gegen elf wurde Annette durch eine interne E-Mail zum Chef bestellt. Er wies stumm auf einen Stuhl und deutete wortlos auf ein angebissenes Sandwich neben seiner Kaffeetasse, wo er auch zwei seiner Zähne deponiert hatte. Annette war angesichts seines tief bekümmerten Ausdrucks dem Lachen nah, so wie sie vor vielen Jahren bei der Beerdigung ihrer Eltern durch hysterisches Gegacker für einen unfreiwilligen Skandal gesorgt hatte. Mit großer Willenskraft blieb sie ernst.
    Ein Unglück komme selten allein - im Brot habe ein Hühnerknochen gesteckt, mummelte der Chef und hob das Corpus delicti anklagend in die Höhe. Sie müsse versprechen, keinem zu verraten, daß er ein Gebiß trage. Da er nur mühsam reden und schlecht telefonieren konnte, war Not am Mann.
    Also machte sich Annette mit einer Tupperdose, in die sie die beiden Zähne und die in Papiertücher gewickelte Teilprothese ihres Chefs gebettet hatte, auf den Weg zu einem Zahntechniker. Der Schaden sollte bis zum späten Nachmittag behoben werden. Unterwegs schüttelte sie immer wieder den Kopf. Was war sie doch für eine Masochistin, daß sie sich für demütigende Hilfsdienste mißbrauchen ließ. Nach Qualifikation und Erfahrung könnte sie längst selbst die Exportabteilung leiten, statt dessen fuhr sie ein fremdes Gebiß spazieren. Als ob das nicht der Hausmeister oder der Bürobote machen könnte und natürlich Jessica, die aber blöderweise keinen Führerschein besaß. Ihr Chef war ein eitler Affe, der auf ihre Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit baute. Dabei wußte jeder im Betrieb, daß der Alte dritte Zähne hatte. Man scherzte sogar, er habe sich nur deswegen für eine Karriere in der Quark-Industrie entschieden.
    Im Stadtteil, den sie ansteuerte, kannte sie sich nicht aus. Da sie keine Begabung dafür hatte, auf Anhieb eine bestimmte Straße zu finden, irrte sie eine ganze Weile lang herum und fragte mehrere Passanten, bis sie schließlich die Tupperdose abgeben konnte.
    Als sie wieder in den Wagen stieg, fiel ihr ein, daß Markus neuerdings ganz in der Nähe wohnte. Kurzerhand schloß sie das Auto wieder ab und ging zu Fuß weiter, obwohl es nieselte. Um diese Zeit hielt sich Markus mit Sicherheit in der Klinik auf, und sie konnte ein wenig recherchieren.
    In dieser und den umliegenden Straßen des Stadtteils »Vogelstang«, der seinen Namen von einigen markanten Hochhäusern hatte, standen zumeist Einfamilienhäuser mit kleinen Gärten. Eigentlich genauso nett wie mein eigenes Häuschen, dachte Annette, nur weiter vom Zentrum entfernt. Ob Markus sein neues Domizil gemietet oder gekauft hatte?
    Während sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Regen stand und das helle, warme Haus unter die Lupe nahm, tat sich die Tür auf, und eine Frau mit einem riesigen Schirm trat heraus. Annette errötete, weil sie sich wie eine Schnüfflerin vorkam. Aber die Fremde schenkte ihr keine Beachtung und konnte sie ja auch nicht kennen; es war eine hübsche junge Frau in Jeans und einem zu engen Pullover, offensichtlich schwanger.
    Viel Zeit zu einer genauen Begutachtung blieb Annette nicht. Die neue Freundin von Markus schwang sich in einen kleinen grünen Mercedes der A-Klasse und fuhr los. Lange dunkle Haare, blaue Augen und ein zufriedenes Lächeln, mehr konnte sich Annette auf die Schnelle nicht einprägen. Es war aber vor allem der fast provozierende Kugelbauch unter dem Strickpullover,

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