Rabenbrüder
ebenso alten wie ungerechtfertigten Dünkel. »Im Grunde hat Achim völlig recht. Es besteht kein Anlaß, daß wir als Spießerfamilie mit Witwenschleier oder Trauerflor auftreten. Wahrscheinlich werde ich Weiß tragen, wie die Urchri-sten. Sollen sich die Leute ruhig das Maul zerreißen! Zieht an, was ihr wollt, ihr habt meinen Segen!« Und dabei bürstete sie hurtig über das feine Tuch. »Die Jacke paßt bestimmt, probier zuerst mal die Hose«, befahl sie.
Gerade als Paul im Slip vor seiner Mutter stand, kam Achim herein und setzte ein perfides Grinsen auf. »Hübsche Wampe hast du dir angefressen«, stellte er fest.
»Du kommst genau zur rechten Zeit«, rief die Mutter, »diese Schuhe sind noch wie neu und könnten dir ...«
»Nein danke«, sagte Achim und knurrte beim Verlassen des Schlafzimmers: »Ihr seid ja fix dabei, Papas Klamotten wegzuschmeißen!«
Leicht betroffen wandte die Mutter ein, es müsse ja doch einmal sein.
Im stillen gab Paul seinem Bruder recht, wenn er es auch anders formuliert hätte. Er hatte schon ein paarmal gehört, daß Hinterbliebene mit wütender Verzweiflung tabula rasa machten und sich durch rastloses Aufräumen und Organisieren von ihrem Kummer ablenken wollten.
Die Mutter schien ihr eiliges Handeln jedoch selbst in Frage zu stellen, denn sie rechtfertigte sich noch ein weiteres Mal: »Bald seid ihr alle beide wieder fort, dann kann ich euch nicht mehr fragen.«
Annette hatte sich in ihrem Bett vergraben. Falls jemand hereinkäme, würde sie sich totstellen. Anscheinend interessierte es Paul nicht im geringsten, wie es ihr ging; vielleicht hatte er noch nicht einmal bemerkt, daß sie mit Achim unterwegs gewesen war.
Sollte einer klug werden aus dieser Familie! Da hielt ihr eigener Mann gern endlos lange Reden, sagte aber bloß ja oder nein, wenn es um private Probleme ging, und verschwieg ihr wichtige Fakten. Und konnte man dem schmeichlerischen Achim trauen, der wiederum alle Ge-heimnisse verriet? Angeblich hatte er eine Freundin, aber kein Foto auf seinem Nachttisch belegte ihre Existenz. Wollte er mit seinen geglückten Annäherungsversuchen dem Bruder eins auswischen? Andererseits schlief er in diesen Tagen nicht in seiner eigenen Wohnung, obwohl es für ihn sicherlich bequemer wäre. Das tat er doch nicht seiner Mama zuliebe, dachte Annette geschmeichelt.
Es war schwer zu sagen, ob sich Annette nach diesem kurzen, heftigen Beischlaf besser oder schlechter fühlte, denn beides traf zu. Einerseits dachte sie bereits darüber nach, wie und wo man sich ohne Zeitdruck mit intensiverem Genuß lieben könnte, andererseits wollte sie eigentlich kein zweites Mal riskieren.
Als es an die Tür klopfte, war es ihre Schwiegermutter. »Kind, dir geht’s wohl nicht gut?« fragte sie so mitfühlend, daß Annette nicht umhinkonnte, sich aufzusetzen.
»Ich bin ein bißchen schlapp«, klagte sie, »und wahnsinnig müde. Wahrscheinlich sehe ich scheußlich aus.«
»Ach was«, sagte Pauls Mutter, »du bist und bleibst eine Hübsche. Aber vielleicht solltest du vor der Beerdigung zum Frisör gehen. Wenn die Haare sitzen, fühlt man sich gleich besser.«
Annette hatte sich tatsächlich noch nicht den Kopf waschen können, an dem immer noch verkrustetes Blut klebte.
»Ich werde mal bei meinem Figaro anrufen und einen Termin aushandeln, damit du nicht warten mußt«, bot ihr die Schwiegermutter an.
Als sie zurückkam, berichtete sie: »Am Donnerstag und Freitag geht es leider nicht. Wenn du dich fit genug fühlst, würden sie dich jetzt gleich drannehmen und ganz vorsichtig mit deinem armen Köpfchen umgehen. Ich frage mal, wer von meinen Jungs dich fahren könnte.«
Kurz darauf saßen Annette und Paul im elterlichen Auto. Er machte ein unfrohes Gesicht, konnte sich dieser Aufgabe aber nicht gut entziehen. Als sie am Ziel waren, schlug er vor: »Ich komm’ schnell mit rein und frage, wie lange es dauert. Wenn es schnell geht, werde ich warten.«
Man versprach, unverzüglich mit der Verschönerung zu beginnen, und Paul schielte lüstern nach den von Olga und Annette verachteten Illustrierten. Als das Telefon an der Kasse klingelte, erschien die Chefin und notierte eine Anmeldung.
Schon wieder kam sich Paul wie ein Schnüffler vor. Sobald er sich einen Moment lang unbeobachtet fühlte, nahm er das Auftragsbuch an sich und blätterte zurück. Die Mutter behauptete, am vergangenen Samstagvormittag hiergewesen zu sein, und im Terminkalender konnte man tatsächlich nachlesen: ii Uhr,
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