Rabenbrüder
deuten? Würde er noch einmal versuchen, sie zu küssen und auszuziehen, obwohl sie ihn einmal abgewiesen hatte? Letzten Endes wußte sie selbst nicht so recht, ob sie es wollte.
Die beiden Zimmer waren ohne großen Aufwand, jedoch modern und praktisch eingerichtet. Außer einem Plüschkrokodil lag nichts Persönliches herum. Achim war viel ordentlicher als Paul, urteilte Annette und vermied es, den Blick auf das große Bett zu richten. »Hübsch hast du es hier«, sagte sie, »ich muß aber noch mal auf eure Mutter zurückkommen. Heute früh habe ich nämlich mit ihr über den Mordfall gesprochen, und sie hat sich herzlich wenig dafür interessiert. Irgendeine auffällige Reaktion wäre doch zu erwarten gewesen!«
»Hast du eine Ahnung«, meinte Achim. »Sie kann sich ausgezeichnet beherrschen. Hat sie sich etwa bei Papas Tod wie ein Klageweib aufgeführt?«
»Ich kann es trotzdem kaum glauben«, sagte Annette. »Wann habt ihr die beiden denn erwischt?«
»Am Samstag vor Ostern. Sie lag im Bett, er preßte in der Küche Apfelsinen aus.«
»Es könnte doch ein Eindringling gewesen sein.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Ein Dieb in Papas altem Bademantel? Es war eindeutig Heiko Sommer, sein Foto war ja in der Zeitung abgebildet. Außerdem hat er sich mehr oder weniger zu seinem Status als Hausfreund bekannt.«
Annette gab auf. »Eure heiß- oder kaltblütige Mutter bleibt mir ein Rätsel«, seufzte sie.
Achim nahm sie in die Arme: »Kleines, du bist süß, aber grenzenlos arglos. Die Welt ist leider schlechter, als du denkst.«
Daraufhin wollte Annette einwenden, daß sie keineswegs ein naives Kind, sondern fünf Jahre älter sei als er, aber sein Kuß verhinderte langes Argumentieren und ließ auch etwaige Widerstände schmelzen.
Trotzdem wiederholte Annette wie eine Gebetsmühle: »Paul ist schließlich dein Bruder .«
Während Achim mit ihrem BH-Verschluß beschäftigt war, sagte er: »Wahrscheinlich betrügt er dich schon seit Jahren. Außerdem gibt es noch etwas, wovon du keinen blassen Schimmer hast. Rücksichtnahme hat Paul weiß Gott nicht verdient.«
Als zu guter Letzt auch Achims Kleider am Boden lagen, hatte sich Annette sowohl ihrer Hemmungen als auch ihrer Halskrause entledigt.
Trauersmoking
In der Mansarde nahm Paul sich den ausrangierten Schwarzweißfernseher vor. Vom Forschergeist überwältigt, schraubte er die Rückwand des Geräts heraus und bastelte so lange, bis zwei Programme wieder zu empfangen waren. Als er gerade mit großem Interesse verfolgte, wie ein englischer Seehund einen deutschen Schäferhund vor dem Ertrinken rettete, klopfte es leise.
Annette hätte lauter gepoltert, es war seine Mutter, die hinaufgestiegen war. »Entschuldige, Jean Paul, störe ich? Kannst du mal ins Schlafzimmer kommen?« fragte sie und lächelte ihn an.
Paul wurde feuerrot. Aber bevor er sich seiner schmutzigen Phantasie schämen konnte, erfuhr er, daß sie gerade den Kleiderschrank des Vaters ausräumte. Morgen käme ein Fahrer vom Roten Kreuz und hole ein paar Säcke ab. Um einige dieser Sachen täte es ihr leid. In ihren Worten lag eine unausgesprochene Bitte, und Paul verstand ganz gut, daß sie es lieber sähe, wenn die Söhne Vaters Mäntel auftrugen.
Er stand also gehorsam auf und folgte ihr. »Wo ist eigentlich Annette?« fragte er.
Wahrscheinlich habe sie sich hingelegt, meinte seine Mutter und griff beherzt in die Tiefen des Wandschranks, sie sei ziemlich lange mit Achim spazieren gewesen.
»Zieh doch bitte mal dieses Jackett über«, schlug sie vor. Widerwillig tat er ihr den Gefallen und besah sich im Spiegel. Zu seinem Entsetzen paßte der uralte Tweedsakko wie maßgeschneidert.
»Den hat sich Papa 1972 in Glasgow gekauft«, erzählte die Mutter. »Die Lederflicken an den Ellbogen galten als besonders schick, das Material ist unverwüstlich.«
Anstandshalber gab Paul ihr recht: »Papa hat immer Wert auf Qualität gelegt.« Insgeheim hatte er vor, allen Debatten diplomatisch aus dem Weg zu gehen, den Ballast mit nach Hause zu nehmen und von dort aus eigenhändig zu entsorgen.
Beim weiteren Sortieren packte die Mutter auch einen schwarzen Anzug auf den Rot-Kreuz-Stapel.
»Moment«, sagte Paul, »der kommt doch wie gerufen!«
Das sei ein Smoking, belehrte sie, Abendgarderobe könne man doch nicht auf einer Beerdigung tragen.
Paul erzählte schadenfroh, sein Bruder hätte sich für diesen Anlaß extra einen Smoking ausgeliehen.
Daraufhin besann sich die Mutter auf ihren
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