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Rabenflüstern (German Edition)

Rabenflüstern (German Edition)

Titel: Rabenflüstern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Schmidt
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eher kleinem Wuchs und leicht untersetzt, was ihn jedoch nicht im Mindesten unattraktiv machte. Nur das eine Auge, unter buschiger Braue, das steinern hart im Kontrast zu dem anderen, gutmütig braunen stand, zeugte noch von seiner dämonischen Abstammung. Gemäßigten Schrittes kam er würdevoll auf den noch frischen Hochkönig zu. 
     
»Lange schlief,
träumte ich tief.
Nun bin ich erwacht«, 
     
    verkündete der Seher in wohlklingender, tiefer Stimme. 
     
»Geblendete Schau,
Ins Morgengrau«, 
     
    brachte Bran das Zitat zu Ende. 
    In respektvollem Abstand blieb der Seher stehen, klatschte in die Hände und lobte die Bildung seines Gegenübers. »Herms von Gundricht. – Ja. Die Menschen hatten Kultur, da sie einig waren in alter Zeit.« 
    Der ehemalige Fürst stieß sich nicht daran, dass es eine solche Zeit nie wirklich gegeben hatte. Er war vereinnahmt von dem ehrfürchtigen Schauer, der ihm immer schon über den Rücken gefahren war, wenn das Menschengeschlecht hochgelobt wurde. Außerdem beschäftigte ihn etwas anderes. Seit der Rückkehr seines Gegenübers hatten sie nicht miteinander gesprochen. An ihn war lediglich durch einen jener unheimlichen Kuttenträger, die mit dem Seher aufgetaucht waren, die Forderung nach den dreißig »entbehrlichen Seelen« herangetragen worden. Natürlich hatte er richtig geschlossen, dass die Suche nach dem Lia Fail erfolgreich ausgegangen war, schließlich sah er ihn augenscheinlich im Gesicht seines Gesprächspartners prangend vor ihm. Aber wie die Suche abgelaufen war, wusste er nicht. Vorsichtig tastete er sich an das Thema heran. »Es ist Kraeh also tatsächlich gelungen«, brütete er in dem Versuch, beiläufig zu klingen, vor sich hin. 
    Doch der Seher durchschaute ihn sofort. »Lass uns eines beschließen, Hochkönig.« So, wie er es aussprach, haftete dem Titel keinerlei Ironie bei, was Bran beruhigte. 
    »Wir wollen ehrlich zueinander sein. Du willst selbstverständlich wissen, ob dein Liebling noch am Leben ist.« 
    Bran lächelte entwaffnet. 
    »Er lebt. Zumindest noch. Aus sicherer Quelle ist mir bekannt, dass er sich auf dem Weg zu Erkentrud befindet. Aber so gewiss er sich uns nicht anschließen wird, so fraglos überschätzt du ihn. Er ist eine Kaulquappe, die ihrem Wesen nach nicht über den Frosch hinaus kann. Eine Wahrheit hat er nun entdeckt und hält sie für die einzige.« 
    »Kann es denn mehr als eine geben?« 
    Der Seher strafte ihn mit einem nachsichtigen Blick. 
    »Überlasse das Philosophieren getrost mir, mein Freund.« 
    »Aber …«, wollte Bran einwenden. 
    »Aber ich bin bereit, dich an meiner Weisheit teilhaben zu lassen. Das Leben ist ein Spiel, ständig im Wettstreit seiner Wahrheiten befangen. Doch wie bei jedem Spiel gibt es Verlierer und Sieger.« 
    Der Hochkönig hörte nicht weiter zu. Seine Aufmerksamkeit war auf die Ahnengalerie gerichtet, auf die ein fahler Lichteinfall den Schatten des Sehers projizierte, dessen schulmeisterlicher Vortrag abrupt abbrach. Die Konturen entsprachen seiner Form, bis auf zwei widderähnliche Hörner, die geschwungen aus seinem Haupt wuchsen. 
    »Bran!«, wurde er laut ermahnt, und zu dem zuvor Gesagten zurückkehrend: »Eben das wollen wir doch wohl, oder?« 
    »Was?« 
    »Siegen.« 
    Entgeistert beeilte sich der Hochkönig, ein »Selbstverständlich, Herr Seher« zu murmeln. 
    Dieser atmete hörbar aus. »Nenn mich nicht so. Ich bin ab heute einer von euch. Mein Name soll Niedswar sein.« Er schickte noch einen Seufzer hintendrein. »Du solltest die Fenster abdunkeln …« 
     
    Die nächsten Tage haderte Bran oft mit sich und seiner Rolle in diesem Spiel um Macht, das er, wie er sich durchaus eingestand, nicht ganz durchschaute. Verlassen saß er auf seinem Thron, über dem, seit seiner Krönung, das Bullenbanner des Hochkönigs und das schwere goldene Kreuz sich seinem Hammersymbol zugesellt hatten. Außer ihm waren nur die sechs Mann seiner Leibwache anwesend, doch auch sie mussten bemerkt haben, dass etwas im Argen lag. In gespenstischer Reglosigkeit warteten sie auf ihre Ablösung. 
    Zweifellos wollte der Seher – oder Niedswar, wie er sich jetzt nannte – ihn als Marionette. Unter dem Vorwand, sein Gemüt nicht mit Alltagsgeschäften zu belasten, kamen kaum noch Gesandte in seine Halle. Nach und nach wurden ihm sämtliche Staatsgeschäfte aus der Hand genommen. Doch diese Ausgeburt der Hölle irrte sich; mochten dessen Worte alle anderen vergiften, er war der

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