Rabenflüstern (German Edition)
in Erkenheim vor. Die Würfel waren gefallen.
***
Ein gutes Stück flussaufwärts von Brisak, wo der Rhein noch unbegradigt und wild war, setzten sie in kleinen Booten über. Es war ein anstrengendes Unterfangen. Immer wieder mussten sie aussteigen, um die Boote über flache, morastige Stellen zu tragen. Die Druden, von denen der knapp fünfzig Mann starke Trupp – bestehend aus den brisakschen Soldaten, die die ganze Reise mitgemacht hatten, sowie den zwei Dutzend Kriegern aus der Armee des Trollkönigs – bis an die Landesgrenze geleitet worden war, hatten gemeint, hier wäre das Netz der Wachen lückenhaft. Natürlich steuerten sie auf eine Falle zu, das wusste Kraeh und die anderen wussten es auch. Die Köpfe unten haltend und die Ruder so leise wie möglich eintauchend, überquerten sie das letzte Stück tiefen Stroms. Alles hing davon ab, unbemerkt zu bleiben.
Sven Ohnesorg, Hauptmann von Brisak, lag mit seiner kleinen Streitmacht vor dem Dorf auf der Lauer, das sie vor drei Tagen niedergebrannt und dessen Einwohner sie exekutiert hatten. Auch wenn Berbast in hohen Tönen davon gesprochen hatte, welch großer Ruhm hier zu erlangen war, bedauerte er doch, nicht mit einer der beiden Hauptarmeen entweder nach Norden oder in die Schlacht gegen die Gorka-Orks geschickt worden zu sein. Er bekleidete den Rang zu kurz, um Kraeh persönlich kennengelernt zu haben, hatte aber Geschichten über ihn gehört. Dennoch verstand er das Aufheben eines einzigen Mannes wegen nicht, schließlich hatten sie doch ganze Königreiche zu unterwerfen. Die hundert Soldaten in seinem Rücken wirkten ebenfalls enttäuscht. Es war kalt und feucht, einige husteten unterdrückt. Die ganze Zeit drängte sich ihm immer wieder dieselbe Frage auf: Weshalb sollte jener Kraeh so dumm sein, hier aufzutauchen? Diesmal jedoch, der Morgen graute bereits, konnte er sie nicht zu Ende denken. Ein Mann rannte, von diesigem Zwielicht umfangen, mitten auf den leeren Fleck Land zu, auf dem einmal das Fischerdorf gestanden hatte. Trotz der schlechten Sicht, war das ihm eingebläute, hervorstechendste Merkmal des Gesuchten eindeutig zu erkennen: ein dichter Schopf weißen Haares. Sven konnte sein Glück kaum fassen. Wer weiß, vielleicht würde er gar zum zweiten General aufsteigen.
Offenbar blind vor Kummer taumelte die Gestalt auf dem Platz umher, in deren Mitte sie heulend vor dem Leichenberg auf die Knie fiel. Irgendwo bellte ein Hund.
»Lothar«, forderte er den Soldaten zu seiner Rechten auf. Dieser legte einen Pfeil auf seine Bogensehne und schoss. So leicht hatte er sich den Auftrag nicht vorgestellt. Der Pfeil fand sein Ziel und riss den Mann von den Beinen. »Noch einen.« Es war besser sicherzugehen. Auch dieser traf. Lothar schenkte ihm ein ehrgeiziges Lächeln, bevor er loslief, um seinen Fang zu inspizieren. Auch ihm schien eine Beförderung gewiss. Er überlegte, sich von nun an Krähentod zu nennen. Das würde die Kameraden in Zukunft davon abhalten, ihn seines Bauchansatzes wegen zu hänseln. Der Traum verpuffte, als er den Leichnam umdrehte und einem bekannten Gesicht in die toten Augen sah. Der Mund war geknebelt und die weiße Farbe an seinen Händen, mit denen er das Haar berührt hatte, ließ keinen Zweifel.
»Das ist Thrierson, wir wurden reingelegt!« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, bohrte sich ein Bolzen in seine Kehle.
Dann brach die Hölle los. Plötzlich waren sie unter ihnen. Einige Soldaten dösten noch in den Sätteln – sie sollten nicht mehr erwachen. Kraeh, Rhoderik, Sedain und Henfir führten die Krieger metzelnd durch die Reihen ihrer Feinde. An diesem blutigen Morgen gab es keine Gnade. Sven verwundete einen, verlor aber kurz darauf seinen Arm an Lidunggrimms hungrige Schneide, die ihm schließlich auch den Kopf von den Schultern trennte.
Im Schein der ersten Sonnenstrahlen war die ganze Hundertschaft dem Hinterhalt zum Opfer gefallen. Doch auch die Sieger hatten einen Blutzoll gezahlt. Nun ging Kraeh, die triefende Klinge noch in der Hand, zu dem abscheulichen Gebilde, das die verwesenden Körper bildeten. Irgendwo dazwischen lagen die Gebeine seiner Ziehfamilie. Tränen rannen seine Wangen hinab. Er erinnerte sich an seine Kindheit. Das warme Lächeln seiner Schwester. Triviale Dinge, die sein Vater ihm über das Fischen gelehrt hatte, kamen ihm in den Sinn. Niemals war er mit seinem schlichten Leben unzufrieden gewesen. Er hatte nicht mehr gewollt, als seine Kinder in Frieden
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